Sowjetische Briefmarken

von Holger Politt

Walter Benjamins Buch „Einbahnstraße“ lockt mit einer Briefmarken-Handlung. Wer ist nicht alles ein Sammler – in der Welt von damals! Die Ladentür macht erst Sinn, sobald die sachliche Funktion der Briefmarke erledigt, die Leidenschaft des Sammlers ihr ungetrübt zufällt. Ein zweites Leben, wie es aussortierten Banknoten nicht zukommt. Die feilgebotene Ware braucht eine nötige Gegenwelt in Form der Briefmarkenalben, jener magischen Nachschlagewerke, wie sie ringsum zuhauf anzutreffen sind: „Marken sind die Visitenkarten, die die großen Staaten in der Kinderstube abgeben“, sagt Benjamin.

Glücklich kann sich schätzen, wer solche Sammlungen voller „Visitenkarten der großen Staaten“ heute noch bestaunen darf. Benjamin selbst ist bereits 1928 sicher: Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts gepflanzte Saat wird das zwanzigste nicht überleben. Zwar hat der unaufhaltsame Fortschritt im schriftlichen Austausch zwischen den Menschen durchaus noch Lücken gelassen, denn immer noch schwirren Briefmarken im Verkehr zwischen Absender und Adressaten mal hierhin, mal dorthin. Doch wo stieße man jetzt noch auf die so liebevoll gefüllten Alben!

Nach einer Wohnungsauflösung blieb kürzlich ein solches Stück zurück, niemand schenkte ihm größere Beachtung. Die Seiten gefüllt mit Briefmarken der Sowjetunion aus der Zeit zwischen 1948 und 1967. Der rechnerische Wert der Sammlung ist kein großer, es waren meistens Wertzeichen in großer Auflagen für die nüchterne Aufgabe, doch besticht den heutigen Betrachter eine ganz andere Seite. Suchte er ein Nachschlagewerk zur sowjetischen Geschichte jener Jahre – hier hätte er eines. Ein großer Unterschied zur bürgerlichen Welt, in der die Postbehörde bei der Herausgabe einer Briefmarke streng darüber zu wachen hatte, zu den wichtigen Seiten im Gesellschaftsbetrieb eine gleichlange Distanz zu halten. Eine Abstraktionsebene, die dem magischen Zauber der Briefmarkenwelt oft genug die Grenzen setzt. Für das Kind gab es kein Sammelgebiet, das langweiliger sein konnte als ausgerechnet die Post der USA, weil dort nichts zu sehen war, was gesondert oder überraschend wäre. Und wer könnte heute dort im fernen Amerika anhand der Briefmarken auf die Geschichte des Landes schließen!

Anders die Sowjetunion! Hier wurde geklotzt, nicht gekleckert! Der wissende Blick von heute errät schnell die Absicht von einst. Die Marken sind nicht größer als anderswo, auch sind sie kaum gefälliger in ihrer funktionsbegleitenden Ästhetik – allein die Informationsfülle auf kleinstem Platz sucht ihresgleichen. Nur braucht es zum Entziffern ein manches Mal die beiliegende Lupe.

Regelmäßig erscheinen Lenin-Marken in wechselnder Aufmachung. 1951 zum 25-jährigen Bestehen des Flusskraftwerkes am nordwestrussischen Wolchow, dem ersten großen Wasserkraftwerk der Sowjetunion, Lenins kühne wie später ins Leere laufende Vision ganz oben auf der Marke: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“. 1952 Lenin in einer Serie bekannter Gemälde: das Treffen mit den staunenden Künstlern, die zurückgezogene Arbeit an „Staat und Revolution“ im Sommer 1917 in der Laubhütte bei Petrograd, der Staatslenker zu Besuch in einem Kinderheim. 1966 schließlich stimmt ein stilisierter Leninkopf im Profil auf den 23. Parteitag der KPdSU ein.

1951 werden 15 Jahre Stalin-Verfassung von 1936 gefeiert: Der Sowjetbürger hat das Recht auf Erholung, der Sowjetbürger hat das Recht auf materielle Sicherstellung im Alter, der Sowjetbürger hat das Recht auf Arbeit. Immer wieder Serien zu den Großbaustellen des Kommunismus – die vielen Staudämme jener Jahre, die Kanäle durch die Wüsten Mittelasiens, der 1952 seiner Bestimmung übergebende Wolga-Don-Kanal mit den 13 Schleusen. Noch ist der Glaube an Lenins großer Prophezeiung unerschütterlich, das Ziel Kommunismus bleibt gesteckt wie Schritt um Schritt erreichbar. Entsprechend gefeiert die Erfolge in der Raumfahrt – der erste Mensch im Kosmos ein Sowjetbürger, die beginnende Mond-Erkundung, schließlich Wostok 5 und 6, Walentina Tereschkowa. Nikita Chruschtschow mit langem Zitat auf dem gezahnten Papier: „Unser Volk hat als erstes den Weg in den Sozialismus eingeschlagen. Es dringt als erstes in den Kosmos vor. Es hat eine neue Ära in der Entwicklung der Wissenschaft eröffnet.“

Eine Briefmarkenserie von 1954 elektrisiert den Betrachter: 300 Jahre Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland! Gedacht wird in prächtiger Aufmachung dem Treueid, der auf der Kosaken-Rada von Perejaslaw 1654 dem Moskauer Zaren geleistet wurde. Der Abfall der ukrainischen Kosaken von der polnisch-litauischen Union öffnet einen historischen Bogen, der am Ende den Aufstieg des Zarentums zur europäischen Macht wie den gleichzeitigen Untergang Polens bedeutet. Wegen des Jubiläums entschied Moskau, die Krim 1954 der Ukrainischen Sowjetrepublik anzuschließen. In Deutschland hält sich hier und da bis jetzt das Gerücht, die Krim-Entscheidung sei erfolgt, nachdem Chruschtschows zu tief ins Glas geschaut habe. Die Briefmarken wissen es besser.

Zum Schluss eine ganz besondere Serie, weil hier die Markenserie – künstlerisch bereits in die Moderne weisend – zur kleingedruckten Zeitung wird. Erscheinungsjahr 1962, kühn wie siegesgewiss wird in die nahe Zukunft geblickt: Was werden wir 1980 erreicht haben! Die Fleischproduktion steigt auf das Vierfache, die Milchproduktion auf das Dreifache. Maschinenbau und Metallurgie haben den neun- oder zehnfachen Wert. Die Getreideproduktion verdoppelt sich, unten auf den einzelnen Marken immer die genaue Statistik der Tonnenzahl – 1960, 1970 und 1980. So auch bei der vielbeschworenen Energieproduktion – die steigt auf den zehnfachen Wert. Und versprochen ist: Jede Region im Land hat 1980 einen Fernsehturm!

An fehlenden Fernsehtürmen lag es folglich nicht, wenn der Weg in den Kommunismus trotz Sowjetmacht, Elektrifizierung und Siegesgewissheit in der Sackgasse endet. Die sowjetische Briefmarke sei empfohlen, sie ist ein verlässlicher wie scharfer Rückspiegel in die gewaltige Geschichte des untergegangenen Reiches, das an die Pforte des Kommunismus zu klopfen wähnte.