Die antifaschistische Welt ist sofort nach dem schrecklichen Auftritt von Präsident Joe Biden in der TV-Debatte mit Ex-Präsident Donald Trump in Aufruhr geraten. In Amerika verlassen sogar ehemals begeisterte Fürsprecher Bidens das Schiff. Es ist immer das Gleiche: „Biden ist zu alt!“ – „Er ist zu schwach!“ – „Er ist dement!“ Die große Mehrheit der Demokraten erkennt zwar die Leistungen seiner Regierung an. Wie in der Debatte überdeutlich wurde, liege das Problem jedoch in seiner scheinbaren Unfähigkeit, diese Leistungen den Menschen zu vermitteln; solange er dies nicht könne, so die Argumentation, werde Trump gewinnen.
Alle Kritiker sind sich einig: Biden sei ein „guter und anständiger Mensch, aber er hat es vermasselt!“ Sie sagen: „Es ist Zeit für Biden zu gehen!“ Der Realismus diktiere die Notwendigkeit eines neuen Kandidaten oder einer neuen Kandidatin. Die Politprofis geben zu, dass es dabei einige technische Probleme während des Parteikonvents der Demokraten im August geben könnte, der den Präsidentschaftskandidaten bestimmt, aber sie wissen, dass diese Probleme lösbar sind.
Dieser Realismus zeigt jedoch auch seine Schwachstellen. Seit mehr als einem Jahrhundert hat kein Kandidat, der aus einem offenen Parteikonvent hervorging, danach die Präsidentschaft gewonnen, abgesehen von Franklin Delano Roosevelt, dem größten Wahlkämpfer aller Zeiten, der 1932 gegen Herbert Hoovers „Große Depression“ antrat.
Dafür gibt es Gründe. Ein solch offener Konvent kann in einem politischen „Massaker“ enden. Ist Vizepräsidentin Kamala Harris ein konsensfähiger Ersatz für die Nachfolge Bidens? In ihrer Rolle als seine Stellvertreterin hat sie nicht gerade geglänzt, und die Linken in der Demokratischen Partei würden sicherlich auf die Barrikaden gehen. Die Parteieliten können versuchen, ihre Macht auszuüben. Den Parteitag mit eiserner Faust zu leiten, wird jedoch mit Sicherheit Narben hinterlassen, Misstrauen erzeugen und die Desillusionierung der Aktivisten an der Basis verstärken. Ein solcher Konvent wird in jedem Fall einen schwachen und kompromittierten Kandidaten hervorbringen. Dessen unterlegene Konkurrenten werden ihn (oder sie) höchstwahrscheinlich nur halbherzig unterstützen. Es könnte sogar sein, dass sie insgeheim auf einen Sieg von Trump hoffen, da dies ihre Chancen auf die Präsidentschaftsnominierung der Partei im Jahr 2028 erhöhen würde.
Antifaschistische Kräfte müssen sich zurücklehnen und durchatmen! Bidens Kritiker schwiegen nach der zu Recht gefeierten Rede des Präsidenten zur Lage der Nation im März 2024. Vielleicht hatte Joe Biden, der nie ein besonders guter Debattierer war, diesmal wirklich nur einen schlechten Tag erwischt. Das wird sich im weiteren Verlauf des Wahlkampfes zeigen. Ungefähr 150 Millionen Menschen haben ihn 2020 gewählt, während 51Millionen die jetzige Debatte gesehen haben. Diese Debatte hat mit Sicherheit das Urteil nur weniger Menschen unter den Trump-Befürwortern wie -Gegnern verändert. Biden ist zu alt. Aber auch Trump ist kein junger Hüpfer mehr. Es ist Zeit, in der Argumentation auch das Alter, die Sprunghaftigkeit und den Größenwahn des Ex-Präsidenten herauszustreichen.
Unter den gegebenen Umständen bringt es wenig, Biden fallen zu lassen. Keiner der Kandidaten, die eine realistische Chance auf die seine Nachfolge haben, verfolgt eine gänzlich andere Politik als der Präsident. Keiner von ihnen wird linke Aktivisten zufrieden stellen, ganz zu schweigen von den selbstgerechten, sektiererischen Anhängern von Drittkandidaten wie Robert Kennedy Jr., Jill Stein und Cornel West. Die Wahl wird von einer Minderheit „uninformierter“ und „unabhängiger“ Wähler entschieden werden. Jeder Ersatzkandidat für Biden wird mit dessen Anliegen identifiziert werden und mit den gleichen Unzufriedenheiten behaftet bleiben wie die derzeitige Regierungsmannschaft.
In der Zwischenzeit könnte Bidens Scheitern in der Debatte ihm aber sogar zum Vorteil gereichen. Seine Kampagne könnte an Fahrt gewinnen, indem sie den schwankenden Wählern vor Augen führt, was auf dem Spiel steht. Es könnte ihnen eine Heidenangst einjagen, wenn sie begreifen, dass sie zwischen einem anständigen Menschen, der sich für die Demokratie und die arbeitenden Menschen einsetzt, und einem verkommenen Subjekt zu wählen haben, dessen Gier nach Macht nur noch von seinen faschistischen Neigungen übertroffen wird. Ein schlechtes Abschneiden in einer Debatte ändert nichts an der klaren Trennlinie zwischen diesen beiden Männern und nichts an der Tatsache, dass, egal wer Biden ersetzen würde, die Solidarität von unten immer noch wichtiger ist und bleibt als die arroganten Prophezeiungen der Parteieliten von oben.
Stephen Eric Bronner ist Co-Direktor des International Council for Diplomacy and Dialogue und emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Rutgers University, New Jersey.
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