Die Utopie sie steht am Horizont. Ich bewege mich zwei
Schritte auf sie zu und sie entfernt sich um zwei Schritte. Ich
mache weitere 10 Schritte und sie entfernt sich um 10 Schritte.
Wofür ist sie also da, die Utopie? Dafür ist sie da: um zu gehen.
Der englische Schatzkanzler Thomas Morus veröffentlichte 1516 „Utopia” – eine Schrift, die „von dem besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“ handelt. „Insel“ Utopia – das andere, Bessere liegt jenseits des Ortes, gemäß dem griechischen u-topos; so auch die andere Gesellschaft „vom besten Zustand“.
Später kam mit den sozialrevolutionären Utopien des 19. Jahrhunderts die zeitliche Dimension hinzu: Der utopische Ort wird in die Zukunft verlegt. Marx sprach vom „Reich der Freiheit“, in dem die Menschen, befreit von den kapitalistischen Verwertungszwängen, ihre Anlagen und Bedürfnisse allseits ausbilden könnten. Bis ins letzte Jahrhundert hinein waren nicht nur Marxisten davon überzeugt, der auf der Entfaltung der Technik, „Produktivkraftentwicklung“, basierende Fortschritt würde die menschliche Lebenswelt und die Beziehungen zwischen den Menschen verbessern. Utopien, vorübergehend auch die kommunistische, wurden zu Motoren der Veränderung; sie motivierten und inspirierten, neue Wege zu gehen. Menschen wollten den Wandel „gestalten“; immer noch ein Lieblingswort der Politik. Denn der Wandel, der Fortschritt fand statt – entweder, wie man heute sagt, by design oder by desaster.
Heute haben wir keine Utopien mehr als handlungsanleitende Orientierung – „wir gehen nicht mehr“ im Birri´schen Sinne. Mit den seit geraumer Zeit raumgreifenden exorbitanten politischen, sozialen, klimatisch-ökologischen Umwälzungen und Katastrophen scheint der Verlust von Utopie, den die philosophische Postmoderne längst proklamierte (so schrieb Jürgen Habermas schon 1985, die „utopischen Energien“ seien „erschöpft“), auch materiell, faktisch besiegelt worden zu sein; die heutige Welt der pragmatischen Leere kann nicht überzeugen.
Eine Demonstration dessen liefert des Kanzlers Rede vom 27. Februar 2022: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Wer jedoch von Scholz Wegweisendes für „die Welt danach“ erhoffte, fand sich ausschließlich in den Niederungen der Aggression Russlands gegen die Ukraine wieder; Scholz forderte die Unterstützung der Ukraine, will Putin vom Kriegskurs abbringen, will die deutsche Verteidigungsfähigkeit herstellen … Folgt man dem Talmud, der Männer ab 70 dem Greisenalter zuordnet, werden aller Wahrscheinlichkeit nach zwei Greise den Wahlkampf in den USA, der westlichen Führungsmacht, bestreiten und einer wird Präsident werden. Wofür kann so ein alter Mann stehen?
Der Grund für diesen bedenklichen Zustand ist in der Segmentierung, in der Fragmentierung des Sozialen zu suchen. Diese Phänomene sind auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu beobachten, auf der der politischen Strukturen und der Kultur, auf der der Institutionen, der korporativen Akteure und Gemeinschaften, auf der der Personen und ihrer Lebensläufe.
Die moderne westliche Gesellschaft hat sich als globale wirtschaftliche und politische Konkurrenz, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Vehikel des Massenkonsums formiert. Sie bringt immer mehr von allem hervor – Parteien, Konsumgüter, religiöse, kulturelle und mediale Angebote, Lebensentwürfe als Folge eines übersteigerten Individualismus, Identitäten von Gruppen und Grüppchen … zentriert um Kategorien wie ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, sexuelle Orientierung. Die hundert „Freunde“ in Facebook sind nichts weiter als ebenso viele Egos, die zu keiner sozialen Gemeinschaft zusammenfinden. – Aber auch immer mehr Waffen, fragile Lieferketten, risikoreich operierende Großtechnologien, zunehmende Umweltbelastungen und steigender Ressourcenverbrauch führen in Sackgassen, verknoten sich zu übergroßen, miteinander vernetzten (globalen) Spannungen und Problemen, deren Lösung immer schwieriger wird – wenn sie überhaupt (noch) gelingen kann. Zukunftsperspektiven sehen anders aus.
Einstmals unsere Gesellschaft tragende Institutionen sind im wörtlichen Sinn zu „U-Topien“ verkommen; zu Un-Orten: Die Staaten zu ökonomischen Standorten, Parlamente zu Gremien, in denen partikulare parteipolitische Interessen über das Allgemeinwohl dominieren, Städte, Regionen, Unternehmen beherbergen Transit-Reisende, die vagabundierend dem Ruf der Arbeit folgen, Familien wurden zu Wohnstellen, wo Humankapital aufgezogen wird und Nahrungsaufnahme stattfindet.
Diese negativen Phänomene wurden in der Vergangenheit von der moralischen Autorität religiöser Institutionen und politischer Bewegungen wie Kirchen, Parteien und Gewerkschaften „bewirtschaftet“, eingehegt. Deren Bedeutung – wie gesagt – nahm parallel zur sozialen Fragmentierung ab. Wie in kommunizierenden Röhren stieg dazu die von thymotischen Energien wie Wut, Hass, Stolz, Geltungsbedürfnis und Ressentiment getriebene Zersetzung der Gesellschaft.
Der Kapitalismus gilt zu Recht als dysfunktionale Gesellschaftsform, die die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft nicht (mehr) vertritt und die (Markt-)Wirtschaft scheitert daran, einen ausreichenden sozialen Ausgleich zwischen Einkommen und Vermögen zu schaffen. (Nota bene hat kaum ein zweites Industrieland eine höhere Ungleichheit bei Vermögen und geringere Aufstiegschancen durch Bildung und Arbeit als Deutschland). Oben beschriebenes Fortschrittsverständnis ist mittlerweile völlig ausgedünnt; es ist zunehmend ein Fortschritt desgleichen ins Nirgendwo – ohne Ort, Gesellschaft und sozial vermittelte Zukunft. Die schwerelos schwebende Cloud steht sinnbildlich dafür. Der Glaube an die Funktion von Technik im Dienste einer besseren, gerechteren Gesellschaft war ein Irrglaube. Technische Lösungen wie das Web 2.0, die Industrie 4.0 oder das Cloud Computing und heute KI-Anwendungen führen nur zur Verdinglichung der Segmentierung, führten weg vom sozialen Zusammenhalt. Das übergeordnete Ziel der Industrie 4.0 ist die Flexibilisierung der Fertigung, ausschlaggebend für den individuellen Zuschnitt der Produkte. Je komplexer die steuerungsbedürftigen Systeme werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit dysfunktionaler Nebenfolgen.
Ratlosigkeit allenthalben; sowohl unter den Intellektuellen und nicht weniger unter den Politikern. Als der Kommunismus implodierte – eine reale Alternative war er nie gewesen –, fiel dem US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama nur ein, das „Ende der Geschichte“ auszurufen, das Zeitalter der „großen Erzählungen“ sei vorbei. Er ist zu Recht oft getadelt worden ob dieser Behauptung. Liest man sie im Lichte oben beschriebener Erschöpfung utopischer Energien, bekommt sie einen völlig anderen Sinn – den einer Vorahnung. Es ist also keineswegs nur Realismus, wenn Ratlosigkeit zunehmend zukunftsgerichtete Orientierung ersetzt; auch „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) genannt. Die Lage mag tatsächlich unübersichtlich sein; mit einer – zumindest gewissen – Unübersichtlichkeit beginnt jedoch jede Bereitschaft zum Handeln, jede Unternehmung, die sich eine Gesellschaft (noch) zutraut. Doch dann macht sich heutzutage oft Kleinmut breit. Die, die wissen, warum etwas nicht machbar sei, führen das Wort. Es geht letztlich um das Vertrauen der westlichen Kultur zu sich selbst als Grundausstattung jeder vernünftigen Weltwahrnehmung und der daraus folgenden Handlungsoptionen.
„Handlungsbereitschaft“ rief ausgerechnet die Corona-Pandemie hervor. Sie wurde als globale Bedrohung zum ersten Mal praktisch, als simultanes Geschehen und kollektives Schicksal erfahren. Sie galt zurecht als Symptom einer globalisierten Lebensweise; die Neigung, einzelnen Staaten oder Politikern Schuld zuzuweisen, war relativ gering. Neu war auch, dass die Staaten handelten, wenn nicht immer kooperativ, so doch einigermaßen koordiniert. Und neu war schließlich auch: In den Ländern machten Bürger die – teils auch trübe – Erfahrung, dass Regierungen in überraschender Geschwindigkeit zum rabiaten Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft finden können, dass verschärfte Randbedingungen radikale und massenhafte Verhaltensänderungen bewirkten, dass individualisierte Konsumbürger zu solidarischem Verhalten und zu radikalen Verzichtsleistungen fähig sind.
Sollten wir uns deshalb noch eine Pandemie wünschen? Gar eine Dystopie? Oder wir lassen die Dinge einfach weiter passieren …
Schlagwörter: Dystopie, Fortschritt, Kapitalismus, Stephan Wohanka, Thomas Morus, Utopie