27. Jahrgang | Nummer 11 | 20. Mai 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal „Die Affäre Rue de Lourcine“ – Schaubühne / „Ulrike Maria Stuart“ – Deutsches Theater

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Schaubühne: Suff, Horror, Paranoia

Zwei Männer morgens im Ehebett, sturzbetrunken, Katerstimmung, Filmriss, eine Ehefrau taucht auf, Erklärungsnotstand – alles normal komisch. Sie verschwindet stumm mit schrägem Blick und schüttelndem Kopf – schon seltsam komisch. So aber können die Herren Lenglumé (Bastian Reiber) und Mistinque (Damir Avdik) endlich anfangen mit ihrer Aufklärungsarbeit: Ob und woher sie sich kennen (alte Schulkameraden beim Klassentreffen abends zuvor). Und was in der Nacht, vom Suff abgesehen, wohl noch alles geschah in der zwielichtigen Rue de Lourcine. Diese Nachforschungen sind mehr als komisch. Sie steigern sich ins pure Entsetzen und lassen – Oh Schreck! – eherne Gewissheiten samt gepflegten Identitäten unheimlich zerbröseln.

Eugène Labiche (1815-1888) gilt als Erfinder der Boulevardkomödie. Er bringt, ohne sich groß um Logik und Psychologie zu kümmern, das menschlich-allzu menschlich Katastrophale in einen giftigen Amüsierbetrieb.

Als sein Paradestück gilt „Die Affäre Rue de Lourcine“, 1857 im boomenden Pariser Vaudeville-Betrieb uraufgeführt, von keiner geringeren als Elfriede Jelinek ins Deutsche übersetzt und vielerorts, auch an ersten Häusern, gern gespielt. – Eben, weil der aufs befreiende wie erstickende Lachen erpichte Autor die nicht nur im gut-brav-bürgerlichen Milieu errichteten Fassaden solider Anständigkeit frech zerdeppert.

Labiches schauerliche Geschichte der beiden Trunkenbolde, die aufgrund ihrer schnapsgesteuerten Gedächtnislücke bei Füllung derselben dem von falschen Indizien befeuerten Wahn verfallen, im Anschluss ans fade Klassentreffen im wilden Puff der Rue de Lourcine eine der jungen Damen zerstückelt zu haben, diese hübsch irrwitzige Story kippt an der Schaubühne Regisseur Jan Bosse in einen wuchernden Alptraum. Unter zickiger Mitwirkung der Luxuspuppe Madame Lenglumé (Julia Schubert), des betörend stoischen Dieners im Haus der Steinreichen (Axel Wandtke) sowie eines armen, bettelnden, durchtrieben zauseligen Verwandten (Holger Bülow).

Da kommt so allerhand Bewährtes aus der Klamauk-Kiste der Komiker zum Einsatz. Geschwind werden Klamotten gewechselt (schicke Kostüme: Kathrin Plath); wird ausgiebig gekotzt, einander gejagt, geküsst, gekloppt (sogar mit Bolzenschneider und Bohrmaschine). Und gelegentlich wird gesungen unter Beigabe von Schopenhauer-Zitaten. Obendrein regnet es Wasser ins pompöse Himmelbett (Bühne: Stephane Laimé), bevor alles zusammenkracht, die Schwerenöter in die Tiefe stürzen. Wo sie, im Bühnenuntergrund, verzweifelt herumirren. In den gruseligen Videobildern von Meika Dresenkamp schauen sie aus wie Dr. Mabuse und Nosferatu.

Alles klar: Da wuchert Paranoia im angstgesteuerten Vertuschspiel des – womöglich bloß herbeigesponnenen? – blutrünstigen Frauentötens. Am Ende weiß überhaupt niemand mehr, was Sache ist: Realer Mord oder Angstfantasie? Wer lebt hier noch oder sind alle schon tot? Labiches flott farcehafte Enthüllungskomödie nunmehr eingedickt als wirrer Horrortraum.

Dabei haben wir längst kapiert: In jedem guten Menschen steckt zugleich das Schlimmste. Und Wahnsinn lauert immer und überall. Also: Nix Neues unter der Sonne. Aber ein paar Calvados zuvor in der Kneipe dürften unser Lachen lockerer machen. – Oder sollen wir gar nicht…?

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DT: Geisterstunde mit Spaßmachern

Da Frauenpower auf welche Art auch immer angesagt ist, besonders im Theater, müssen auch im DT starke Frauen an die Rampe: Beispielsweise Nora, Penthesilea, Brünhild, Krimhild und jetzt, kompakt als Viererpack, in Elfriede Jelineks Königinnendrama: Maria Stuart, Elisabeth I., Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin.

Wer da an Schiller denkt, liegt einigermaßen daneben. Die österreichische Nobelpreisträgerin lässt in „Ulrike Maria Stuart“ auf hundert Druckseiten den nicht zimperlichen Damen-Vierer in scharf geschliffene Debatten über Macht, Herrschaft, Gewalt und Umsturz gegeneinander antreten. Genauer gesagt: Es ist eine lose Verquickung der Figuren Stuart und Meinhof sowie Elisabeth und Ensslin. Im Kern geht es um den Krach der beiden RAF-Diven hinter Stammheim-Gittern und Jelineks erbitterte (verbitterte) Abrechnung mit der radikalen Linken und ihren Verbrechen, von denen sie glaubten, es sei das Fanal zur Revolution.

Alles lange her. Derart lange, dass Regisseurin Pinar Karabulut, künftige Chefin vom Schauspielhaus Zürich, von der Jelinek-Großfläche gleich mal gut 90 Prozent wegschnitt. Immerhin blieb Ensslins nüchterne Bemerkung als Zentralsatz vom Clinch der Knast-Königinnen erhalten: „Das Volk, zu dessen allerbesten Freunden wir uns aufgeschwungen haben, will uns nicht; womöglich hat es bessere Freunde.“

Der allerletzte Rest vom Text wird in knappen 65 Minuten abgespult im mal mehr, mal weniger pathetischen, hysterischen, heulenden oder kokettierenden Geplapper von Meinhof (Regine Zimmermann) und Ensslin (Abak Safaei-Rad).

Doch versorgt uns die Regie noch mit einem hübschen Theatercoup: Sie verlegt den Krampf der Terror-Ladys grotesk ins Reich der Zombies. Für eine vernebelte Geisterstunde auf dem Friedhof, wo Gespenster aus Grüften kriechen: Katrin Lehmann, Daria von Loewenich und Caner Sunar wagen da Tänzchen zwischen Grabsteinen, umturteln die hohen Frauen der RAF und zelebrieren alberne Showeinlagen unter einem blau-rot giftig dräuenden Barock-Himmel (Bühne: Michela Flück). In den glitzernden Show-Kostümen von Claudia Irro gibt die ins Spinnerte weit- und weggeworfene Komikertruppe wenigstens den Hingucker. Bisschen Spaß muss sein. – Aber sonst …?