27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal „Kunst“ – Theater am Frankfurter Tor / „Kalter weißer Mann“ – Renaissance Theater

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Theater am Tor: Was uns kaputt macht

Wahnsinn! 100.000 Euro für ein Gemälde, auf dem nichts drauf ist. Eine monochrom weiße Fläche. Zugegeben, mit einigen zart silbrig-graue Fädchen. Aber so viel Geld „für solch einen Scheiß“, da dreht Marc durch. Und hält seinen Freund Serge für total bescheuert, der sich berauscht an diesem „Nichts“ eines hochberühmten Künstlers und es gekauft hat. Für 100.000 Euro.

Auch Yvan, der hinzukommende Dritte im alten Freundesbund, staunt irritiert, sagt aber nichts. Keine wirkliche Meinung, doch schwankend zwischen „Nun ja, muss man verstehen!“ und „Aber ach, so viel Geld…“

Soweit die Ausgangslage in „Kunst“, dem 1994 in Paris uraufgeführten sarkastisch-komödiantischen, psychologisch fein ziselierten und sprachlich scharf geschliffenen Welterfolg der französischen Autorin Yasmina Reza (übersetzt in mehr als 40 Sprachen).

Da mag durchaus eine saftige Satire auf den Wahn des Kunstmarkts mitschwingen. Doch im Kern geht es um sehr viel mehr: nämlich um die Schwierigkeiten, auch extrem gegensätzliche Meinungen selbst unter guten Freunden gelten zu lassen, souverän darüber zu reden oder sie zumindest großmütig auszuhalten. Und sich nicht untereinander kaputt zu machen.

Aber genau das geschieht mit dem Dreier ziemlich gegensätzlicher Charaktere – der protzig Bildungsbürgerlichkeit ausstellende Serge (Daniel Wobetzky), der handfeste, eher schlicht gestrickte Hitzkopf Marc (Johannes Hallervorden) und der biedere, liebenswert weicheiernde Yvan (Steffen Melies). Zwar trifft man sich gern zum Palavern in der Kneipe, bleibt aber locker oberflächlich. Übergeht mit Bedacht gärende Widersprüche – soziales Gefälle, gegensätzliche Mentalitäten, Lebensansichten, Daseinsansprüche. Doch mit der Kunstdiskussion, die schnell ausartet ins Grundsätzliche und eskaliert bis zu Handgreiflichkeiten, da werden bislang verschwiege Wahrheiten ausgekippt. Bis der Kumpelbund daran zerbricht.

Wir sehen, der Reza-Klassiker ist gegenwärtig wie nie. Und Regisseurin Irene Christ, frei von aktuellen Anzüglichkeiten, organisiert mit Verve und Präzision die saftigen, für alle Beteiligten freilich arg verletzenden Schlachten des gegenseitigen Verurteilens und Ausgrenzens. Das trotz allem nicht unsympathische Trio (ein Extra-Kunststück!) tobt zwischen Slapstick und Sprachvirtuosität bravourös auf der Brettl-Bühne des frisch gegründeten 99-Plätze-Theaters. So abgründiges wie großartiges Unterhaltungstheater am Frankfurter Tor. – Ein Hit der Saison!

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Renaissance: Kleiner Stern, kolossale Wirkung

„Feinwäsche Steinfels G.m.b.H.“, das ist bester alter westdeutscher Mittelstand; seit 75 Jahren (BHs, Schlüpfer, später Slips, Push-Ups, Bikinis, Tangas, Strings). Jetzt starb ihr Gründer. Gernot Steinfels, hochbetagt, verwitwet, ohne noch lebende Verwandtschaft. Und Horst Bohne, sein seit ewig designierter Nachfolger (Markus Gertken), richtet die Trauerfeier.

Ihm zur Seite Chefsekretärin Rieke Schneider, mütterlich besorgt, gern ein Lied auf den Lippen, das Seelchen vom Betrieb (Imogen Kogge mit anrührend zarter Singstimme); dann die ehrgeizige Alina Bergreiter, Chefin für Online Marketing, Vertrieb, New Development (chic und sexy: Alexandra Finder); Kevin Packert, Social-Media-Pfleger (verschusselt nerdig: Johannes Deckenbach) sowie Kim Olkowski, die flott vorlaute Praktikantin (Leonie Krieg).

Alles ist fein hergerichtet: In der Mitte unter Schinkels leuchtendem Sternenhimmel der Trauerhalle die Urne (Bühne: Manfred Gruber); davor der teure Kranz mit dicker Schleife: „In tiefer Trauer. Deine Mitarbeiter“.

Bohne und Sekretärin sind zufrieden, der Pastor (Felix von Manteuffel) kann loslegen. Da gellt ein Aufschrei: „O mein Gott! Stopp! Auf der Schleife fehlt ein Geschlecht.“ – „Wieso?“ – „Der kleine Stern muss her“, ruft die Jugend und zückt den Edding. Für: „Mitarbeiter*innen“. – Horst Bohne: „Lächerlich! Gender-Gaga. Nur über meine Leiche.“

Von da ab tobt eine zunehmend rücksichtslos und verletzend, dümmlich, albern, schamlos, vorlaut und witzig bis gedankenscharf geführte Pro-Kontra-Schlacht: Um die oft bis ins Absurde getriebene, neuartig-sensible Sprache allseitiger Rücksichtnahme und allumfassenden Respekts.

„Kalter weißer Mann“, das im Renaissance Theater mit bravourösem Furor uraufgeführte Stück von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob spielt leicht mit schwer Polarisierendem. Im Mittelpunkt: Der gescholtene alte weiße Mann (wie Horst Bohne), der sich mit verzweifelter Selbstgerechtigkeit gegen vermeintlich kranke Korrektheit, gegen den modisch-lächerlichen Zeitgeist-Scheiß wehrt; aber auch ringt mit dessen lebensfremden Auswüchsen.

Sein Gegenüber: Die Jungen. Sie sagen, was Menschen empfinden und wie sie leben möchten sei keine Mode, keine Krankheit, dafür müsse es korrekte Sprache geben. Als Ausdruck wahrer Gerechtigkeit. Sprache schaffe Realitäten, könne diskriminieren, herabwürdigen, ignorieren. Oder kenntlich machen.

Großartig, wie das ruhmreiche Autoren-Duo („Extrawurst“, 2020 im Renaissance; siehe Querbeet, Blättchen 3/2020), wie es all die Aufreger im Diskurs-Topf hochkocht: LGBTQIA, Rassismus, kulturelle Aneignung, Sexismus, Body-Shaming, Me-Too, Machtmissbrauch… – Und obendrein das lautlose Schreien der Sirenen im Netz, die alles digital verstärken, jedes aus seinem Kontext reißen.

Social-Media-Bursche Kevin im Alarmzustand: 230.000 User verfolgen ätzend kommentierend die Redeschlacht, die ein unerkanntes giftiges „Blümchen23“ aus der Trauergemeinde (= Publikum im Saal) heimlich mit dem Handy aufnimmt und postet. Angstschweiß (das Netz kann vernichten), Wutanfälle auf der Bühne. Auch als sich herausstellt, dass die woken Gerechtigkeitsjünger teils selbst agieren wie der alte weiße Adam – die intrigante Marketing-Lady liefert das hässliche Beispiel.

Das alles fügt sich – auch durch die Regie von Guntbert Warns – zu einer saftigen Menschenkomödie mit schönster Schauspielkunst.

Am Ende gibt es keinen Sieger im Clinch. Dafür das vom Herrn Pastor gesegnete, ironisch getönte Finale mit aufblühender Einsichtigkeit auf beiden Seiten. Das berühmt-berüchtigte Sternchen als ein Anstoß für jeden und für jede, sich kritisch zu befragen. Jenseits von blindem Eifer, beleidigender Rechthaberei, schmerzlicher Ausgrenzung.