Alle seine Stücke habe ich bei weitem nicht gesehen.
Einmal im Deutschen Theater. Sophie Rois, das Subjekt, das sich durchökonomisierte, um „frei“ zu sein, und dabei sich vollkommen bewusst war, in welche Verhältnisse es geriet, das war das Hinreißende bei der Inszenierung von „Cry Baby“. Zurück muss ich denken an „Stadt als Beute,“ den Anfang im Prater oder „Ein Chor irrt sich gewaltig“. Sophie Rois und ein Chor, das war es doch. Und das war es auch, was mich am Abend des 25. April dieses Jahres dazu brachte, angespannt und glücklich zu erleben, was René Polleschs Freunde, Mitarbeiter, Schauspieler, Musiker und Sänger zeigten, ihm zu Ehren, um ihn, den im Februar verstorbenen Dramatiker, Regisseur und Intendanten der Berliner Volksbühne zu feiern, mit: „Schmeiß dein Ego weg und feier, was du liebst“.
In den letzten Stücken von Pollesch ging es nicht mehr nur um die Darstellung des durchökonomisierten Subjektes, das sich trimmt, um das eigene Bewusstsein verkaufbar zu machen. Es ging um die Chance der Kooperation der Subjekte, ihrer produktiven Verbindung, wie die oft nur als Kopulation missverstanden wurde.
Dann wurde von Pollesch auch die verbreitete Kapitalismuskritik kritisiert: Nicht die Unmoral und die Gier der Einzelnen sei mörderisch. Das Gesetz der Konkurrenz, das angeblich die Ursache jeder Evolution sei, muss endgültig als unvernünftig, unmenschlich, die Entfaltung hemmend erkannt werden. Pollesch sagte nun , dass eben nicht die Konkurrenz, die Evolution voran bringt, sondern die Kooperation. Nicht Mahnung und Moralpredigt helfe in der Krise, man müsse die tote, Menschen mordende Technik lebendig machen, so dass sie wirklich allen dient.
Wie die tote Technik lebendig wird und allen dient, das feierte die Volksbühne an dem Beispiel des Vorhangs, seidig orangerot, durchleuchtet, erleuchtet, vibrierend, wabernd über allem, sich wandelnd, eine Bühnenbildarbeit von Leonhard Neumann, dem Sohn Bert Neumanns, und der erfinderischen Bühnenarbeiter. Ein mitfühlender, regsamer, besänftigender, handelnder Baldachin.
In vielen Szenen wurde ein „Du“ über dem Vorhang angesprochen, das war zärtlich und drängend und dankbar an einen Gedachten gerichtet.
Als der Chor – in Jeanskleidung –, der für mich mehr wie eine dichte Arbeitskooperative schien, sang: „God only knows what I’d be without you“, da fühlte ich das heraus klingen, wonach die große Suche in der künstlerischen Arbeit geht, nach dem Mittel, der Form, dem Können, der Liebe, die uns verbindet, damit wir lustvoller, lebendiger und fähiger sind. Oder wie Fabian Hinrich ganz einfach sagt, damit „es gelingt“.
Fähig fühlen und sich gegenseitig fühlen, das hörte man immer bei Pollesch zwischen den Denkanstrengungen, mit denen die Darsteller und Chöre sich in seinen Stücken anschrien, wenn dann dazwischen leise durch das Mikrophon die Frage nach der Liebe und nach der Abhängigkeit grüblerisch drängte oder wenn die Körper der Tanzkompanien ihre Einheit, ihre Freude und ihr Versprechen ausdrückten.
Und auch alle Darsteller zeigten, was man an René Pollesch liebte, diese Kooperation, die die Evolution voranbringt.
Getroffen wurde ich diesmal endgültig von Katrin Angerer, die kindlich klagte, jene rührende Einschränkung spürbar machte, wenn sich der liebende und geliebte Mensch auch in etwas noch nicht zu Verstehendes verwandelt und die größte, traurig zurück bleibende Liebe nur noch sagt: „Ich kann es nicht sagen.“
In dem Augenblick fuhr es mir ins angespannte Lauschen und dann ins Herz, und der Schmerz ging lange nicht weg, bis ich zu Hause war und Tabletten schluckte.
Dann fand ich einen alten Text in meinem Computer, ein Protokoll aus einem Gespräch mit Pollesch und Bert Neumann vor 15 Jahren darüber, dass das Problem der Selbstausbeutung des Subjektes nicht mehr allein den Hauptinhalt seiner Arbeiten bestimme, sondern, weil die Ausbeutungsverhältnisse so individualisiert würden, bilde sich kein Kollektiv und kein Bündnis mehr. Ich meinte dann, dass die Selbstanalyse des Subjektes wenigstens stärker sein sollte als die bürgerliche Zuschreibung einer Identität. Ja, sagte Pollesch, er sei deshalb gegen die Identitätspolitik. Es gehe darum, bürgerliche Formate zu verweigern. Es würde bei ihm ein anderes Modell erzählt. Die Identitätspolitik hätte man durchschaut, sie sei dazu da, um die einen abzuschieben und den anderen schlechte Jobs zu geben. „Bei uns“, also bei allen, die mit ihm arbeiteten, sei das anders. Der Herr sei nicht unter ihnen, nicht mal als Observator. Draußen sei er, der Herr.
Ricarda Bethke, ehemals Lehrerin für Deutsch und Kunst, ab 1984 Hörspielautorin, später Verfasserin von Essays und Theaterkritiken, Romanautorin, lebt in Berlin.
Schlagwörter: Berliner Volksbühne, Bert Neumann, Identitätspolitik, René Pollesch, Ricarda Bethke