27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

Kafka (I): Orte

von Mathias Iven

Als Franz Kafka heute vor 100 Jahren starb, ahnten nur wenige, welchen Platz er dereinst in der Literaturgeschichte einnehmen würde. Längst ist er zum Klassiker geworden. Seine Texte liegen in unzähligen Ausgaben und Sprachen vor, Millionen kennen seinen Namen und die Namen seiner Protagonisten: Gregor Samsa, Josef K., Karl Roßmann … Doch woher rührt die Anziehungskraft seiner Werke? Und vor allem: Wer war Franz Kafka? Noch immer gibt es das eine oder andere bisher unbekannte Detail zu entdecken. So zum Beispiel, wenn es um seine Reisen geht, die ihn unter anderem nach München, Berlin und ins Ostseebad Müritz führten.

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München. – Im Herbst 1901 immatrikulierte sich Kafka an der Prager Universität. Noch war er auf der Suche. Er interessierte sich für Chemie, wechselte zu Jura, hörte Kunstgeschichte und Germanistik. Das letztgenannte Fach interessierte ihn durchaus, doch die angebotenen Vorlesungen schreckten ihn eher ab. Durch Paul Kisch und Emil Utitz, zwei seiner ehemaligen Mitschüler, wurde sein Augenmerk auf München gelenkt. Warum nicht den Studienort wechseln? Doch die Entscheidung fiel Kafka sichtlich schwer. Im Dezember 1902 erklärte er seinem Freund Oskar Pollak: „Prag läßt nicht los. […] Dieses Mütterchen hat Krallen.“ Es sollte noch fast ein Jahr vergehen, bis Kafka im November 1903 zum ersten Mal nach München fuhr. In den knapp zwei Wochen seines Aufenthalts verschaffte er sich lediglich einen groben Überblick von der Stadt. Zwar hatte ihm Paul Kisch seine Hilfe angeboten, doch es kam zu Missverständnissen und ein geplantes Treffen fand nicht statt. – Kafka kehrte zurück nach Prag und setzte sein Jurastudium fort.

Durch Vermittlung seines Freundes Max Brod kam es Anfang 1908 zu Kafkas erster Publikation. Unter dem Titel „Betrachtung“ wurden in der von Franz Blei und Carl Sternheim gegründeten und in München erscheinenden Zweimonatsschrift „Hyperion“ acht kleine Prosastücke veröffentlicht, die vier Jahre später Eingang in das erste, unter demselben Titel verlegte Buch Kafkas finden sollten.

Zum zweiten Mal, allerdings nur auf der Durchreise, kommt Kafka am 26. August 1911 nach München. Gemeinsam mit Max Brod will er über Zürich und Luzern weiter nach Mailand. Gegen 21.45 Uhr fährt ihr Zug in München ein. Im Abteil haben sie eine junge Frau kennengelernt, die sie zu einer Blitztour durch die Stadt überreden. In atemberaubendem Tempo geht es im strömenden Regen mit dem Taxi durch die Straßen. Nach nur 20 Minuten ist man wieder am Bahnhof. Um 22.30 Uhr setzen Kafka und Brod ihre Reise fort.

Vier Jahre nach seiner ersten öffentlichen Lesung, die am 4. Dezember 1912 in Prag stattfand, tritt Kafka am Abend des 10. November 1916 ein zweites und letztes Mal einem größeren Publikum gegenüber. Eingeladen hat ihn der Buchhändler und Galerist Hans Goltz, Teil des abendlichen Programms ist Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“. Wegen der Zensurbehörden ist die Lesung in der Münchner Zeitung kurzerhand als „Tropische Münchhausiade“ angekündigt worden. Die rund 50 Anwesenden sind irritiert. Schon „mit den ersten Worten“, so der Schriftsteller Max Pulver, „schien sich ein fader Blutgeruch auszubreiten“; es herrschte „Verwirrung im Saal, man trug eine ohnmächtige Dame hinaus“. Ein Kritiker sprach von einem „stofflich abstoßenden“ Vortrag, und ein anderer meinte, Kafka habe sich als „ein Lüstling des Entsetzens“ gezeigt. Völlig deprimiert reist der Autor am 12. November auf Nimmerwiedersehen zurück nach Prag.

Was Alfons Schweiggert zu Kafkas Münchner Aufenthalten zusammengetragen hat, ist mehr als nur eine Zusammenstellung biographischer Fakten. Liefert er doch zugleich eine anschauliche Darstellung des kulturellen Lebens in der damaligen königlichen Residenzstadt. Dem in zweiter Auflage vorliegenden Buch hat Schweiggert ein umfangreiches Kapitel angefügt, basierend auf seinem 2004 veröffentlichten Band „Kleine Seele, springst im Tanze“. Darin finden sich nicht nur 15 zwischen 1897 und 1920 entstandene, als „Kafka-Gedichte“ bezeichnete Texte, vor allem geht es um die Frage: „Lassen sich aber wirklich überzeugende Gründe dafür anführen, diesen vom Schreiben besessenen Menschen als ,Lyriker‘ zu bezeichnen oder ist dies nicht nur eine haltlose Unterstellung?“

Alfons Schweiggert: Kafka in München. Zwischen Leuchten und Finsternis, Allitera Verlag, München 2024, 173 Seiten, 18,00 Euro.

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Ostseebad Müritz. – Am 1. Juli 1922 hatte man Kafka in den „vorläufigen“ Ruhestand versetzt. Die fortschreitende Tuberkulose ließ eine regelmäßige Büroarbeit nicht mehr zu. Kuren und Erholungsaufenthalte waren erfolglos geblieben. Und so betrachtet er auch die bevorstehende Reise an die Ostsee mit Skepsis. Gemeinsam mit der Schwester Elli und ihren beiden Kindern soll es nach Müritz gehen. Warum man sich für diesen Ort entschieden hat, sei dahingestellt. In Griebens Reiseführer konnte man lesen: „Das Leben in Müritz ist einfach und verhältnismäßig billig, doch fehlt es nicht an Geselligkeit. Große Promenade auf den beiden 320 u. 350 m langen Landungsbrücken. Der Ort besitzt Zentralwasserleitung und elektr. Licht. Schöne Dünenpromenade.“

Nach einem Zwischenstopp in Berlin trifft Kafka am 6. Juli 1923 in Müritz ein. Seine Schwester und die Kinder haben tags zuvor ihr Quartier in der Pension „Glückauf“ bezogen. In ruhiger Lage, acht Minuten vom Strand entfernt, bieten 22 Gästezimmer – „mit freiem Blick aufs Meer“ – einen bescheidenen Komfort. Kafka schaut sich um und macht eine Entdeckung: „50 Schritte von meinem Balkon ist ein Ferienheim des Jüdischen Volksheims Berlin. Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehn. […] Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks.“

Die Arbeit des Jüdischen Volksheims war Kafka durchaus vertraut. Initiiert von dem Medizinstudenten Siegfried Lehmann hatte es am 18. Mai 1916 seine Arbeit aufgenommen. Kafkas damalige Verlobte Felice Bauer bot Lehmann im Sommer 1916 ihre Mitarbeit an und betreute – von Kafka in seinen Briefen lebhaft unterstützt – eine Zeitlang eine Gruppe 11- bis 14-jähriger Mädchen.

Im Müritzer Haus „Kinderglück“ kümmerte sich das Jüdische Volksheim um Kinder von 7 bis 14 Jahren. Eine Annonce versprach: „Individuelle Behandlung, Verpflegung nach mod. Grundsätzen, erfahrene Aufsicht“. Eine Woche nach seiner Ankunft lernt Kafka dort Dora Diamant kennen (siehe Blättchen, 1/2024), die als Köchin und Wirtschafterin für das leibliche Wohl der Kinder sorgt. Die beiden kommen ins Gespräch, sie erzählt von ihrer Kindheit in Polen und wie ihr Weg sie nach Berlin und ins Volksheim führte.

Bis zum 6. August, dem Tag von Kafkas Abreise, treffen sie sich fast täglich. Da die Ferien noch nicht zu Ende sind, muss Dora bleiben. Man vereinbart, sich in Berlin zu treffen. Kafka, dessen Gesundheitszustand sich nicht gebessert hat, will sich dort nach einer Unterkunft umschauen, alles Weitere wird sich ergeben. Am 25. September 1923 holt er Dora in Berlin vom Bahnhof ab und fährt mit ihr in die Miquelstraße …

Das alte Müritz gibt es nicht mehr, weder die Landungsbrücken noch die Häuser „Kinderglück“ und „Glückauf“. Doch die zahlreichen, von Günter Karl Bose für sein exzellent gestaltetes Buch zusammengetragenen Fotografien vermitteln ein lebendiges Bild der damaligen Verhältnisse. Besondere Beachtung schenkt Bose der damals 17-jährigen Tile Rössler, die als Betreuerin im Haus „Kinderglück“ arbeitete. Noch heute lesenswert ist in diesem Zusammenhang die zuerst 1942 erschienene Novelle „Dina und der Dichter“ von Martha Hofmann, die die Begegnung zwischen Tile und Kafka in den Mittelpunkt stellte.

Günter Karl Bose: Franz Kafka im Ostseebad Müritz [1923], Quintus-Verlag, Berlin 2024, 96 Seiten, 20,00 Euro.

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Berlin. – Anfang Dezember 1910 kam Kafka erstmals für knapp eine Woche an die Spree. Begeistert äußerte er sich vor allem über die von ihm besuchten Aufführungen im Deutschen Theater, in den Kammerspielen und im Lessing-Theater. Weitere Kurzbesuche lassen sich zwischen März 1913 und Juli 1914 nachweisen. Der Grund dafür war Felice Bauer, die er im August 1912 in Prag kennengelernt hatte. Dokumentiert durch Hunderte von Briefen wissen wir vom Auf und Ab ihrer Beziehung. „Ich fahre nach Berlin zu keinem andern Zweck“, schrieb ihr Kafka am 19. März 1913, „als um Dir, der durch Briefe Irregeführten, zu sagen und zu zeigen, wer ich eigentlich bin.“ Im Tiergarten, wo sie oft stundenlang spazieren gingen, machte Kafka ihr Anfang März 1914 einen Heiratsantrag. Gut sechs Wochen später dann die inoffizielle Verlobung, am 1. Juni feierte man das Ereignis in der Wilmersdorfer Straße 73, Wohnung Bauer. Doch bereits im darauffolgenden Monat trennte sich das Paar. Auch das zweite Verlöbnis im Juli 1916 sollte nicht zu einer Heirat führen; im Dezember 1917 wurde die Beziehung endgültig beendet.

In einem neuen Heft der Frankfurter Buntbücher hat Michael Bienert, der Berlins literarische Schauplätze wohl besser als jeder andere kennt, nicht nur die oben skizzierten Abläufe rekonstruiert, er ist vor allem auf Spurensuche gegangen. Anhand der beigegebenen Karte lassen sich auch heute nicht mehr existente Orte wie das von Kafka bevorzugte Hotel Askanischer Hof, das Café Josty am Potsdamer Platz, die an der Jannowitzbrücke gelegene Flussbadeanstalt Pochhammer oder das Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz auffinden.

Dass Kafka trotz gescheiterter Heiratspläne Berlin als möglichen Arbeitsort im Auge behielt, entnehmen wir einem Brief an die Eltern vom Juli 1914: „Die Ausführung meines Planes denke ich mir so: Ich habe 5000 K[ronen]. Sie ermöglichen mir irgendwo in Deutschland in Berlin oder München 2 Jahre, wenn es sein muß, ohne Geldverdienst zu leben. Diese 2 Jahre ermöglichen mir litterarisch zu arbeiten und das aus mir herauszubringen, was ich in Prag zwischen innerer Schlaffheit und äußerer Störung in dieser Deutlichkeit, Fülle und Einheitlichkeit nicht erreichen könnte.“ Doch erst 1923 wird sein Plan zur Realität.

Nach seinem Ostseeaufenthalt reiste Kafka zunächst nach Prag, bevor er am 16. August in Begleitung seiner Schwester Ottla in die nördlich gelegene Sommerfrische Schelesen aufbrach. Am 21. September kehrte er von dort zurück und fuhr zwei Tage darauf, so seine Absicht, „nur für paar Tage“ nach Berlin. Es sollten sechs Monaten werden, in denen er zwei Mal sein Quartier wechselte. Zunächst bezog Kafka ein Zimmer in der Steglitzer Miquelstraße 8. Nach Streitereien mit der Wirtin über die Miete wechselte er, unterstützt von Dora Diamant, zum 15. November 1923 in die Grunewaldstraße 13. Doch auch hier ging es nur ums Geld, so dass am 1. Februar 1924 ein neuerlicher Umzug anstand, der Kafka in die Zehlendorfer Heidestraße 25/26, zur Witwe des Schriftstellers Carl Busse führte. Da sich sein Gesundheitszustand jedoch immer weiter verschlechterte, musste Kafka am 17. März 1924 Berlin endgültig verlassen.

Nachklang. Nur wenigen ist bekannt, dass in Berlin der Grundstein für Kafkas posthume Entdeckung gelegt wurde. So erschien Ende August 1924 in dem kleinen Berliner Avantgardeverlag Die Schmiede sein Buch Ein Hungerkünstler, an dessen Korrekturen er bis zuletzt gearbeitet hatte. Wenig später wurde an gleicher Stelle Der Prozess herausgebracht, die erste Romanveröffentlichung aus dem von Max Brod verwalteten Nachlass.

Michael Bienert: „Wie der Himmel über der Erde“. Kafkas Orte in Berlin (1910 – 1924), Kleist Museum, Frankfurt (Oder) / Verlag für Berlin-Brandenburg 2024, 32 Seiten, 10,00 Euro [= Frankfurter Buntbücher 73].