27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

Globale Finanzarchitektur

von Jürgen Leibiger

überholt, dysfunktional, ungerecht

 

António Guterres, 2023

 

Auf dem Pariser Gipfeltreffen für einen New Global Financing Pact vor einem Jahr charakterisierte UN-Generalsekretär António Guterres die globale Finanzarchitektur als „outdated, dysfunctional, and unjust”. Sie entspreche nicht mehr den Erfordernissen der Welt des 21. Jahrhunderts, einer multipolaren Welt, die durch eng integrierte Volkswirtschaften und Finanzmärkte und durch geopolitische Spannungen und wachsende Systemrisiken gekennzeichnet sei.

Als globale Finanzarchitektur wird jenes komplexe System von Akteuren und Institutionen, politisch-ökonomische Regularien und objektiven Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten bezeichnet, welches die finanziellen Beziehungen auf den Weltmärkten determiniert. Es bestimmt die monetären Bedingungen des Welthandels, die Währungsverhältnisse und die Möglichkeiten und Kosten der Kreditaufnahme. Die Lage und die Entwicklungsmöglichkeiten der Weltwirtschaft und einzelner Länder sind in hohem Maße von diesem System abhängig.

Mit Blick auf zentrale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds IWF und die Weltbank – beide sind Sonderorganisationen der UNO – wies Guterres darauf hin, dass diese im Gefolge der Bretton-Woods-Verhandlungen vor 80 Jahren unter völlig anderen Bedingungen als heute gegründet wurden; mehr als drei Viertel der gegenwärtig existierenden Länder waren nicht anwesend. Dies zeige sich auch darin, dass vor allem Entwicklungsländer massiv benachteiligt würden. So erhielten die Länder der Europäischen Union vom IWF zuletzt fast 13-mal mehr Sonderziehungsrechte je Einwohner zugeteilt als afrikanische Staaten. Und obwohl die Herausforderungen an das Finanzsystem gestiegen seien, würde das eingezahlte Kapital der Weltbank im Verhältnis zum globalen Bruttoinlandsprodukt massiv schrumpfen. Entwicklungsländer zahlen für ihre Kredite bis zu drei-, vierfach höhere Zinssätze als die G7-Länder. Das heutige Finanzsystem „verewigt und verschärft die Ungleichheiten“ stellt Guterres fest und forderte deshalb einen „neuen Bretton-Woods-Moment“.

Gemeinhin wird angenommen, das Bretton-Woods-System sei vor 50 Jahren untergegangen. Das stimmt aber nur zum Teil. Zwar wurde der Gold-Dollar-Standard mit seinen festen Wechselkursen und die Pflicht der US-Zentralbank, Dollars gegen Gold einzutauschen, abgeschafft, die Rolle des US-Dollars als internationale Leitwährung blieb jedoch erhalten. Die US-Währung dominiert mit einem Anteil von über 42 Prozent den internationalen Zahlungsverkehr, mit 44 Prozent den Devisenhandel und zu fast der Hälfte das internationale Geschäft mit Anleihen und Schuldverschreibungen. Fast 60 Prozent aller Währungsreserven bestehen aus Dollar. Und IWF und Weltbankgruppe blieben als zentrale Institutionen des Weltfinanzsystems nicht nur erhalten, sondern bauten ihre Stellung als globale, von den USA dominierte Kreditgeber aus. Obwohl beispielsweise China die Vereinigten Staaten beim BIP in Kaufkraftparitäten überholt hat, halten die USA 17 und China nur 6 Prozent der IWF-Anteile. Ähnlich sieht es bei der Weltbankgruppe aus. Als 1969 die IWF-interne Buchwährung der Sonderziehungsrechte SZR eingeführt wurde, verbanden manche damit die Hoffnung, diese könnten den Dollar als Leitwährung ersetzen. Es blieb aber bei einer reinen Verrechnungs- und Krediteinheit innerhalb des IWF. Vor einigen Jahren kamen einige Länder auf diese Idee zurück; sie verschwand jedoch ganz schnell wieder in der Schublade.

Zur Weltfinanzarchitektur gehört auch das Zahlungssystem SWIFT, über das internationale Zahlungen abgewickelt werden. Es ist in Belgien formal als eine Genossenschaft organisiert und hat nichts mit Weltbank oder IWF zu tun. Aber auch hier schalten und walten die USA und in ihrem Gefolge der „Westen“ nach eigenem Gutdünken. Unverfroren wird auf Informationen über den internationalen Zahlungsverkehr und Datenbestände zugegriffen. Mit Hilfe des SWIFT wird – natürlich „freiwillig“ – die Sanktionspolitik gegen unliebsame Staaten durchgesetzt. Mittlerweile stehen 22 Länder auf der US-Sanktionsliste. Die bestehende Finanzarchitektur hat die Finanzkrise von 2008/2009 zwar etwas abmildern, aber nicht verhindern können. Eine ganze Reihe von Entwicklungsländern steckt in tiefen Schuldenkrisen und die Schaffung eines adäquaten Staateninsolvenzrechts wird von den G7-Staaten und im Interesse privater Gläubiger bislang verhindert. Die entwicklungspolitischen Ziele der UNO (Sustainable Development Goals 2030) werden auch deshalb krachend verfehlt, weil ihre Durchsetzung an den Möglichkeiten der internationalen Finanzarchitektur scheitert.

Guterres hatte diese Problemlage im Blick, als er seine Forderungen nach einem neuen Bretton-Woods-Moment stellte. Aber er reagiert damit auch auf einen gewissen Druck bestimmter Staaten. Viele der benachteiligten Länder sind der ewigen Reformversprechen überdrüssig geworden und suchen nach Alternativen jenseits bestehender Strukturen. Diese Suche hat erst begonnen und die bisherigen Ergebnisse vor allem im Rahmen des BRICS+-Systems mit China an der Spitze sind noch weit davon entfernt, die bestehenden Hegemonialverhältnisse wirklich zu durchbrechen. Die Absichten sind jedoch erkennbar: Unabhängigkeit vom „Westen“ und Reduzierung von dessen Sanktionsmöglichkeiten, Relativierung bis Ablösung des Dollars als Leitwährung durch den Übergang zu Wirtschafts- und Finanzbeziehungen auf Grundlage der jeweils eigenen Währungen und Ausbau der in Shanghai beheimateten New Development Bank der Brics-Staaten als Alternative zur Weltbankgruppe. Immer mal wieder wird sogar über die Schaffung einer BRICS-Währung spekuliert. Dass diese Vorhaben nicht unrealistisch sind, wird daran deutlich, dass in dieser Staatengruppe über 40 Prozent der Weltbevölkerung leben und etwa ein Drittel des Welt-BIP erzeugt wird. Das Wachstumstempo ist deutlich höher als im Westen. Die Brics+-Staaten verfügen über 42 Prozent der globalen Devisenreserven als einem wesentlichen Teil der Währungsreserven; diese umgerechnet 2,8 Billionen Dollar hätten bei einem koordinierten Einsatz eine erhebliche Feuerkraft.

Die Hauptakteure des bestehenden Systems sind offensichtlich in Alarmbereitschaft versetzt. Man ahnt wohl auch, dass ein Wirtschaftskrieg die neu aufstrebenden Kräfte zwar behindern, aber nicht aufhalten kann. Selbst die nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine verhängten Sanktionen scheinen nicht die erwartete Wirkung zu entfalten. Hellsichtige Köpfe verstehen, dass die bestehende Finanzarchitektur in ihrer Substanz nur erhalten werden kann, indem sie reformiert wird. „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“ Der berühmte Satz aus Tomaso Di Lampedusas Roman „Der Leopard“ könnte hierfür nicht treffender sein.

Der UN-Generalsekretär scheint es indes ernst zu meinen. Er hat einen UN-Zukunftsgipfel Pact for the Future vorgeschlagen, der im September stattfinden soll. Ein Schwerpunkt dieses Gipfels soll die Reform der internationalen Finanzarchitektur sein. Sie soll zeitgemäßer, effektiver, inklusiver, repräsentativer und gerechter werden. Die Repräsentanz der Entwicklungsländer in den internationalen Finanzinstitutionen soll verbessert werden. Im Rahmen der UNO sei ein übergeordnetes Organ zu schaffen, um die Kohärenz des Finanzsystems zu gewährleisten. Das Problem der Staateninsolvenzen soll durch die Schaffung eines geeigneten Mechanismus gelöst werden. Öffentliche Finanzmittel zur Bewältigung der Klima- und Entwicklungskrise sollen erhöht und effektiver eingesetzt werden. Die Sonderziehungsrechte beim IWF sollen aufgestockt und ein gerechterer Zugang gewährleistet werden. Es soll eine globale „Steuerarchitektur“ geschaffen werden, mittels der Steuerflucht und -hinterziehung effektiv bekämpft werden kann.

Die von Guterres angestrebten Veränderung der Finanzarchitektur sind durchaus zu begrüßen, aber nur schwer durchsetzbar. Nicht, dass dies organisatorisch und technisch nicht machbar wäre, aber die ungleiche Machtverteilung in diesem System stellt eine hohe Hürde dar, denn die etablierten Staaten, allen voran die USA, müssten freiwillig Macht abtreten. So wird die Revolution wohl ausbleiben. Es wird weiter jenes „muddling through“, jenes Durchwursteln mit kleinen Reformen in Mini-Schritten wie bisher geben. Und die Brics+-Staaten werden weiter an einem alternativen System basteln. Der Ausgang dieses Kampfes ist vorerst ungewiss.