An einer Wand in Jenny Erpenbecks Wohnung in Berlin-Mitte hängen lauter Dinge, die mit dem Untergang der DDR verschwunden sind: eine Packung Haarnadeln, eine Schachtel Karo-Zigaretten, Dreiecksmilchtüten, wie es sie in der Schule gab, Emser Salz aus dem VEB Berlin-Chemie, die Anmeldung ihrer Mutter für einen orangefarbenen Trabant.
Spätestens im Februar 1990 sei ihr klar gewesen, dass das mit der DDR nichts mehr wird, da habe sie begonnen, diese Dinge zu sammeln, sagt Jenny Erpenbeck bei ihrem Rundgang durch ihre Wohnung am Arkonaplatz. Die Gastgeberin zeigt auch noch Fotos ihres Großvaters Fritz Erpenbeck aus dem Moskauer Exil und seine Leica, mit der man noch fotografieren kann. Dann setzt sie Teewasser auf und nimmt zum Interview am großen Küchentisch Platz.
Viele Blumen stehen darauf, und neben den Blumen liegen Artikel der Berliner Zeitung. Fritz Erpenbeck, der Großvater, gehörte kurz nach Kriegsende 1945 zu den Mitbegründern der Zeitung. Aber die Artikel auf dem Küchentisch sind – im Gegensatz zu seiner Leica – neu, liegen da wie Texte, die man sich aufhebt, wenn man noch nicht zum Lesen gekommen ist.
Jenny Erpenbeck kommt gerade kaum zum Lesen oder Schreiben. In ein paar Tagen bricht sie zu einer Lesereise nach New York und Los Angeles auf. Von dort geht es direkt nach London. Am 21. Mai wird hier der Internationale Booker-Preis verliehen, der wichtigste nach dem Literaturnobelpreis. Erpenbeck ist zum sechsten Mal dafür nominiert, wenn man den Vorgänger, den Independent Foreign Fiction Prize, mitzählt. Kein anderer deutscher Schriftsteller vor ihr hat das geschafft.
Die Ostdeutsche ist ein Phänomen: Im Ausland als Star gefeiert, wird sie zu Hause, wenn überhaupt, verhalten gelobt. Der Spiegel hat seit sieben Jahren kein Wort über sie verloren. Den Deutschen Buchpreis oder den der Leipziger Buchmesse hat sie noch nie bekommen. Ihr für den Booker-Preis nominierter Roman „Kairos“ hat es nicht mal auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft.
„Kairos“, die Geschichte einer Liebesaffäre zwischen einem verheirateten älteren Mann und einer 19-jährigen Studentin, spielt in den letzten Jahren der DDR und den ersten nach dem Mauerfall. Die englischsprachige Zeitschrift The Atlantic lobt Erpenbecks „Schilderung eines zerrissenen Landes und Jahrhunderts“. Die New York Times schwärmt, Erpenbeck sei eine der anspruchsvollsten und stärksten Romanautoren unserer Zeit. Der New Yorker hat bereits 2015 vorhergesagt, die Deutsche werde bald den Literaturnobelpreis bekommen.
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Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Nominierung, Frau Erpenbeck! Sind Sie aufgeregt?
Inzwischen schon. Es ist ja so wie bei der Oscarverleihung, man fährt hin und weiß nicht, wie es ausgeht. Manchmal sitzt man da als Nominierte und bekommt den Preis nicht. Manchmal wieder geht es andersherum, dann rechnet man gar nicht damit und bekommt ihn plötzlich.
Ihr Roman „Kairos“ gilt als Favorit für den Booker-Preis. Die Jurys der großen deutschen Buchpreise aber haben ihn ignoriert. Haben Sie eine Erklärung für diese Diskrepanz?
Ich glaube, die englischsprachigen Leser und Kritiker wollen nachfühlen können, was so ein großer geschichtlicher Umbruch bedeutet. Zumal sich der Kapitalismus auch nicht als ideal erwiesen hat. Sie sind jenseits der deutschen Ost-West-Debatten, sind weder von der einen noch der anderen Seite belastet, können also quasi von außen auf das gescheiterte, alternative Gesellschaftsmodell blicken – und vor allen Dingen auf die Menschen, die mit einem Schnitt quer durch ihre Biografien fertig werden mussten. Es gibt in solchen Zeiten eine ungeheure Beschleunigung, eine intensivere Wahrnehmung, die das Existenzielle freilegt. Dafür haben die englischsprachigen Leser ein Gespür.
Gibt es Unterschiede in der Beurteilung Ihrer Bücher im Westen und im Osten Deutschlands?
Es gab eine Passage in einer Kritik zu „Kairos“, über die ich gestolpert bin. Da hieß es, ich glorifizierte Moskau. Aber jeder, der mein Moskau-Kapitel wirklich liest, kann leicht feststellen, dass ich darin nichts glorifiziere, sondern dass es in Tag und Nacht, hell und dunkel eingeteilt ist. Und das natürlich aus gutem Grund. In den Nächten geht es um all die furchtbaren Geschichten, die aus der Stalinzeit bekannt sind, um die Verhaftungen, Erschießungen, Lager. Ich habe mich gefragt, und das ist eine interessante Frage, ob ein Leser oder Kritiker im Westen dieses Kapitel vielleicht wirklich anders wahrnimmt, also manche Aspekte darin übersieht, weil er – oder sie – anders sozialisiert ist. Ob also vielleicht nur eine bestimmte, konkrete, eigene Lebenserfahrung das Instrument für eine bestimmte Art von Erkenntnis herstellt.
In einer anderen Rezension wurde Ihnen vorgeworfen, Sie würden übersehen, dass 49 Prozent der Ostdeutschen die deutsche Einheit wollten.
So einfach war das damals nicht. Die Wahlen vom 18. März 1990 waren vorgezogene Wahlen. Die neugegründeten Parteien im Osten hatten dadurch gar keine Chancen, sich zu organisieren und für sich zu werben. Die wussten ja auch noch gar nicht, was das heißt: Wahlkampf. Ich glaube, viele Menschen im Osten haben unterschätzt, was diese schnelle Vereinigung bedeutet, was es heißt, wenn alle existierenden Strukturen aufgelöst und in nur wenigen Monaten ans bundesdeutsche System angepasst werden.
Wie ging es Ihnen persönlich damit?
Mich hat das alles in einem guten Alter erwischt. Ich habe Opernregie studiert und konnte nach der Wende als Praktikantin mit Ruth Berghaus nach Stuttgart oder Frankfurt am Main mitfahren. Als ich nach Abschluss des Studiums zunächst keine Stelle fand, habe ich Sozialhilfe bezogen und mir als Verkäuferin in einem Bäckerladen etwas dazuverdient. Ich fand das in Ordnung – es blieb noch Zeit, um Projekte zu machen und zu schreiben. Ich konnte ja nichts dafür, dass es keine Arbeitsstelle für mich gab. Aber bei manchen Westlern löste das ziemliches Befremden aus. Die fragten: Du lebst wirklich von Sozialhilfe? Da habe ich gemerkt, dass das ein soziales Stigma ist.
Und Ihre Eltern, wie sind die über die Wendezeit gekommen?
Meine Mutter wurde aus der Humboldt-Universität entlassen, nicht aus einem politischen Grund, sondern weil es an der FU ja bereits eine Sektion für Arabistik gab, die voll besetzt war. Sie hätte das Zeug dazu gehabt, Professorin zu werden. Und musste stattdessen eine ABM-Stelle annehmen. In dieser Zeit hat sie ihre gesamte literaturwissenschaftliche Bibliothek ins Antiquariat gegeben und später ausschließlich als Übersetzerin gearbeitet.
Wie war es bei Ihrem Vater?
Er kam von der Akademie der Wissenschaften und wurde nach der Auflösung der Akademie zunächst von der Max-Planck-Gesellschaft übernommen, später hat er in Projektgruppen gearbeitet und ab seiner Berentung noch lange im Steinbeis-Institut. Gerade hat er mir davon erzählt, dass das Geld der privaten Rentenvorsorge, das zu DDR-Zeiten von den Akademiemitgliedern jahrelang eingezahlt wurde, von der Bundesrepublik ersatzlos geschluckt worden ist. Es wurde schon dagegen geklagt, allerdings ohne Erfolg.
Haben Sie die Geschichten Ihrer Eltern in die Biografie der männlichen Hauptfigur in „Kairos“ mit einfließen lassen – auch wenn Sie vom Rundfunk der DDR erzählen?
Nein, mit meinen Eltern hat das nichts zu tun. Ich habe viel recherchiert dazu, auch mit einer ehemaligen Redakteurin gesprochen, die mir genau schilderte, wie das technische Personal beim Rundfunk entlassen wurde. Die betraten einer nach dem anderen einen großen Saal, da stand auf einem Tisch ein Telefonapparat, der Hörer lag daneben – sie sollten den Hörer aufnehmen, ihren Namen sagen, und dann erfuhren sie von der neuen Leitung aus Köln, ob sie übernommen werden oder nicht. Dann sollte der Hörer wieder danebengelegt werden, und es war der nächste dran. Ich fand das erschütternd.
Dieser verheiratete Mann um die 50 hat in Ihrem Buch eine 19-jährige Geliebte, die ihm verfallen ist, sich von ihm schlagen und manipulieren lässt. Mit dem Bild von der emanzipierten, selbstbewussten DDR-Frau hat das nicht viel zu tun. Oder?
Einige Rezensenten haben geschrieben, dass zwischen beiden von Anfang an ein Ungleichgewicht herrsche. Das sehe ich nicht so. Zunächst halten sich Wissen und Schönheit halbwegs die Waage. Erst von dem Moment an, da der Mann manipulativ wird, ist klar, dass er ein anderes Instrumentarium beherrscht, um die Beziehung zu steuern, als die junge Frau. Im Grunde genommen wird ihr gerade zum Verhängnis, dass sie sich für so emanzipiert hält und dass sie moralisch keine Vorbehalte hat. Dadurch merkt sie erst spät, dass sie an der Beziehung kaputtgeht. Vom Ende her gesehen, wirkt die Strafe, der er sie unterwirft, übrigens auch als Projektion: als seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schuldkomplex.
Wegen seiner Berichte für die Stasi.
Ja. Einige Leser aus dem Osten haben mir geschrieben, wie schade es sei, dass ich am Ende des Buchs vor dem West-Vorurteil gegenüber dem Osten einknicke: also vor der Annahme, dass in der DDR praktisch jeder bei der Stasi gewesen sei. Da kann ich nur sagen, die über tausend Seiten Täter-Akten sind leider nicht meine Erfindung, sondern sind recherchiert. Eine jahrelange Mitarbeit bei der Stasi verleiht natürlich auch das Gefühl, über denen zu stehen, die man beobachtet. Nicht umsonst hat dieser Hans eine Kindheit in der Nazizeit hinter sich. Ist von der faschistischen Erziehung geprägt.
Inwiefern genau?
Das Elitedenken kommt, glaube ich, aus dieser Zeit. Und die rigide Machtausübung, wenn sie in meinem Buch auch nur im Privaten stattfindet. Man kann nicht immer nur sagen: Das ist ein DDR-Bürger, der ist diktaturgeschädigt. Das greift zu kurz und blendet aus, dass viele, die aus der Hitlerjugend kamen, als Jugendliche im Nachkriegsdeutschland in die FDJ gegangen sind, weil sie einen Bruch, eine Entwertung der vorigen Ideale zu verkraften hatten. Man springt sozusagen auf die andere Seite, um das Vakuum wieder zu füllen. Übrigens ist das die Generation, der auch Franz Fühmann, Uwe Johnson, Christa Wolf angehörten, die nach dem Krieg und den schrecklichen Enthüllungen über die Verbrechen der Nazis aus gutem Grund zur Gegenseite übergelaufen sind. Dass deren Enthusiasmus später auch enttäuscht wurde, ist die Fortsetzung der Geschichte. Die Mühen der Ebene, wie Brecht das genannt hat. Jedenfalls gibt es keine „Stunde null“ – weder in der Politik, noch in Biografien. Alles hat ein Davor und Danach. Und ich finde es wichtig, das mitzudenken.
Bei einer Lesung haben Sie auf die Frage, wie viel an dem Buch autobiografisch sei, geantwortet: 87,2 Prozent. Haben Sie irgendwann selbst eine Kiste mit Erinnerungsstücken eines Mannes bekommen wie die Heldin des Romans?
Nein.
Das sind die 12,8 Prozent, die nicht stimmen?
Gegenfrage: Warum ist das überhaupt interessant?
Weil die Intensität dieser Beziehung wahnsinnig spannend und verstörend ist. Und weil die DDR hier wie in kaum einem anderen Buch wieder aufersteht. Gelingt Ihnen das so gut, weil Sie damals Tagebuch geführt haben?
Es war gut, dass es Tagebücher gab, ja. Aber vor allem, weil sie zeitgeschichtlich interessant waren. Ich hatte zum Beispiel notiert, dass die Oststraßen durch die vielen Besucher aus dem Westen plötzlich nach Chanel Nr. 5 zu riechen begannen. Daran hatte ich mich gar nicht mehr erinnert. Oder dass ich, drei Wochen nach dem Mauerfall, als ich zum ersten Mal nach West-Berlin hinübergehen wollte, meinen Ausweis vergessen hatte. Den brauchte man damals noch an den geöffneten Grenzübergängen. Auch diese Fahrt mit der U-Bahn Schönhauser Allee gibt es als Eintrag, wo ich damals die Kerzen in den Fenstern gesehen – Symbol für die Solidarität mit der Opposition –, und aus der Bahn auch kurz einen Blick auf die Mahnwache an der Gethsemanekirche geworfen habe, aber nicht ausgestiegen bin.
War es das erste Mal, dass Sie sich so intensiv mit der Wendezeit beschäftigt haben?
Ja. Und ich habe auch zum ersten Mal systematisch auf diese Zeit geschaut – und versucht, die Reihenfolge der Ereignisse zu verstehen. Und habe erst da verstanden, wie kurz tatsächlich die Spanne war zwischen dem Mauerfall und dem Moment, als klar wurde, dass es auf die Vereinigung zugeht. Ganze acht Wochen waren das nur! Von November bis Januar. In meiner Erinnerung nahmen die Euphorie, das Gefühl der Selbstermächtigung, der Aufbruch einen riesigen Raum ein. In Wahrheit musste jeder ab Januar zusehen, dass er so schnell wie möglich begreift, wie die Bundesrepublik funktioniert. Da war die kurze Zeit der Mündigkeit schon wieder vorbei.
In Ihrem Buch üben Sie Kritik an der Aufarbeitung der deutschen Geschichte. Da stehen Sätze drin wie: „Warum werden nur Seelen der Osthälfte Deutschlands bis in ihre verborgenen Tiefen offengelegt, warum wurde es nach der Nazizeit in ganz Deutschland nicht genauso gemacht?“ Was ist Ihre Erklärung dafür?
Von der Nazizeit waren alle betroffen, in jeder Familie gab es Täter. Da wurde die Aufarbeitung naturgemäß ungern, wenn überhaupt, gemacht. Die Stasimitarbeit dagegen beschränkte sich ja weitgehend auf DDR-Gebiet. Da war es, vom Westen aus gesehen, wesentlich leichter, zu verurteilen und Strafen zu verhängen.
Ist dieser Hans eine Art Sinnbild für das Scheitern der DDR? Ist der sozialistische Staat an selbstgerechten Männern wie ihm zugrunde gegangen?
Zum einen war schwierig, mit einem Volk, das eben noch der Naziideologie angehangen hat und für die die zurückkehrenden Emigranten eigentlich der Feind waren, einen Staat zu machen. Dadurch war das gegenseitige Misstrauen von Anfang an Teil des Systems. Auch die von Angst gezeichnete, formelhafte Sprache gerade derjenigen, die aus dem sowjetischen Exil zurückkamen und verantwortliche Positionen übernahmen, hatte wohl ihren Anteil daran, dass die Verbindung zur jungen Generation nicht lebendig blieb. Das ist übrigens auch angesichts aktueller Sprachregelungen interessant, denn auch heute gibt es ja wieder ein ganz stark reglementiertes Vokabular. Von unten genauso wie von oben.
Erleben Sie diese Reglementierungen auch als Schriftstellerin?
Reglementierung nicht, das würde ja auch gar nicht greifen, denn ich kann nur so schreiben, wie ich es für richtig halte. Aber, um nur ein Beispiel zu nennen, bei einer Lesung im Goethe-Institut in Accra stand einmal eine – deutsche – Praktikantin auf und monierte, ich würde das N-Wort in „Gehen, ging, gegangen“ verwenden. Sie hatte offenbar nicht verstanden, was eine literarische Figur ist. Wenn ich einen Charakter darstellen will, muss ich ihm doch die Sprache geben, die er hat. Sonst könnte ich gleich ganz aufhören zu schreiben.
Gab es Sprachregelungen und -verbote nicht immer schon, im Osten wie im Westen? Fallen sie heute vielleicht nur so stark auf, weil sich durchs Internet alles viel schneller verbreitet?
Es fällt auf, dass die Reaktionen härter ausfallen. Zum Beispiel war ich vom PEN America zum World Voices Festival nach New York und nach Los Angeles eingeladen und erfuhr zunächst von Absagen einiger anderer Autoren, die fanden, der amerikanische PEN habe sich nicht deutlich genug mit den Palästinensern in Gaza solidarisiert. Inzwischen ist das ganze Festival abgesagt.
Sie hätten von sich aus nicht abgesagt?
Ich finde Absagen nicht das richtige Instrument, um eine Meinung zu bekunden. Man muss doch miteinander im Gespräch bleiben, gerade in so einer Organisation wie dem PEN. Man muss sich den schwierigen Diskussionen stellen: Russland – Ukraine, Israel – Gaza. Andere zu bestrafen, indem man sich entzieht, ist, finde ich, nicht der richtige Weg. Ich persönlich beklage die Toten auf allen Seiten.
Gehört „russischer Angriffskrieg“ zu den Sprachregelungen, die Sie schwierig finden?
Nein. Es ist ein russischer Angriffskrieg, das kann man nicht anders sagen. Mein Vater kam während der Emigration seiner Eltern in Ufa, der Hauptstadt der Baschkirischen SSR, zur Welt. Seine Eltern waren Antifaschisten, haben im Rundfunk der Komintern auf der Seite der Russen gegen die Deutschen gekämpft. Damals war Russland das angegriffene Land. Jetzt ist Russland in die Ukraine einmarschiert. Und damit hat man sich zu befassen.
Wie blicken Sie auf das Russland von heute?
Es ist, das muss man ganz klar sagen, nicht der Erbe der Ideen, die an der Sowjetunion einmal visionär und fortschrittlich waren. Putin hat sich mit dem orthodoxen Klerus verbunden, und die Schere zwischen Arm und Reich ist riesig. Von Ideen der traditionellen Linken, die meine Großeltern, meine Eltern und auch ich immer hochgehalten haben – Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Aufklärung –, ist nicht mehr die Rede. Russland gewinnt die Anführer afrikanischer Staaten für sich, aber nicht, damit die Länder zu eigenem Wohlstand kommen können, sondern weil es eine kapitalistische Großmacht ist, die Rohstoffe ausbeuten und Terrain gewinnen will. Um das klar zu sehen und sich keinen Illusionen hinzugeben, muss sich der eine oder andere Ostler gründlich an den eigenen Ohren aus dem Sumpf ziehen. Hoffnungen aufzugeben, tut weh.
Zurück zum Booker-Preis. Wird das Schreiben schwerer durch so eine Auszeichnung?
Er setzt mich nicht unter Druck und er beflügelt mich auch nicht. Die Schwierigkeiten liegen im Schreiben selbst. Ob ich für einen Stoff die richtige Form finde, ob ich beim Schreiben etwas verstehe, ob ich auf den Kern der Fragen komme, davon hängt es ab, ob mir etwas gelungen erscheint. Die Außenwahrnehmung hat damit nichts zu tun.
Falls Sie den Preis gewinnen, halten Sie dann eine Rede?
Nee, da muss man sich nur ganz kurz bedanken.
Was würden Sie mit dem Preisgeld machen?
Ich würde davon leben, ich mache keine Kreuzfahrt.
Begleitet Ihr Mann Sie nach London?
Nein. Denn wenn ich den Preis nicht bekomme, lohnt sich der Aufwand nicht. Und wenn ich den Preis bekomme, habe ich danach so viel Stress, dass er nichts von mir hat. Ich habe also zwei Rückflüge von London gebucht, einen gleich für den nächsten Tag, den anderen eine Woche später. Für den einen oder den anderen Fall.
Berliner Zeitung, 4./5. Mai 2024, Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Redakteurinnen und des Verlages.
Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin (DDR) geboren. Ihre Großeltern, die Schriftstellerin Hedda Zinner und der Journalist Fritz Erpenbeck, überlebten die NS-Zeit im sowjetischen Exil. Ihre Mutter war Arabistin, ihr Vater Physiker. Die englische Ausgabe von „Kairos“, übersetzt von Michael Hofmann, stand zur Zeit des Interviews auf der Shortlist für den Booker-Preis. Der renommierte Internationale Booker-Preis wurde ihr am 21. Mai 2024 in London verliehen.
Schlagwörter: Anja Reich, Cornelia Geißler, DDR, International Booker Price, Jenny Erpenbeck, Roman „Kairos“, Russland, Wendezeit