27. Jahrgang | Nummer 11 | 20. Mai 2024

Das Unverständliche verstehen – die Evangelikalen

von Iván T. Berend, Los Angeles

Nachdem ich seit vielen Jahren in Kalifornien lebe, suche ich – wie viele meiner Freunde in Europa – nach einer Antwort auf die Frage, warum die bigotteste amerikanische Religionsgemeinschaft, die sogenannten Evangelikalen, seit 2016 als Phalanx hinter einem Mann wie Donald Trump steht, der nicht nur ungläubig, sondern darüber hinaus ein notorischer Lügner ist, der nur auf seine eigenen Interessen achtet.

Ein aktuelles Beispiel: Wenige Tage vor Ostern hat Donald Trump den Verkauf seines „Lieblingsbuches“, einer von ihm geförderten Bibel, für 59,99 Dollar beworben. Grundlage ist die Zusammenarbeit mit dem Musiker Lee Greenwood, dessen Hit „God Bless the USA“ (Gott segne die USA) auf jeder Trump-Wahlkampfveranstaltung gespielt wird.

Wie konnte Trump im Jahr 2016 rund 81 Prozent der Stimmen weißer evangelikaler Christen gewinnen? Warum wurde genau dieser Immobilienhai für sie zu einer Art Messias, der gegen den Satan kämpft – in ihren Augen übrigens von Barack Obama verkörpert, galt doch Obama als heimlicher muslimischer Extremist. Schon damals schreckten sie nicht vor den wildesten Lügen zurück. Michelle Obama, die ehemalige First Lady, wurde Michael Obama genannt. Es wurde behauptet, sie sei tatsächlich ein Mann. Während Joe Bidens Präsidentschaft verkündete ein evangelikaler Prediger von der Kanzel: „Im Weißen Haus sitzt der selbstsüchtige, vergreiste Joe Biden, der nicht mehr weiß, was er tut.“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Natürlich weiß er es, denn er ist das Böse schlechthin.“

In den USA unterscheiden sich evangelikale Christen von Anhängern anderer christlicher Religionen dadurch, dass sie die Zugehörigkeit zu ihrer Religion durch einen Akt der Wiedergeburt erklären. Pfingstler, Methodisten, Calvinisten und Evangelikale haben ihre Wurzeln im Protestantismus, der sich einst von der katholischen Kirche löste. Von den 1980er Jahren an wurden sie zu konservativen Republikanern. Sie lehnten die Trennung von Religion und Politik entschieden ab. Sie verkündeten, dass die Gründerväter der USA ein christliches Land schaffen wollten. Die Ansicht, Religion und Politik sollten sich nicht vermischen, komme vom Teufel, der so verhindern wolle, dass Christen das Land regieren.

Im Zuge der Säkularisierung war ab 1962 das Gebet an öffentlichen Schulen verboten worden. Die Legalisierung der Abtreibung im Jahr 1973 führte dann zu einem echten Wendepunkt. Religiöse Extremisten forderten deswegen ein Verbot öffentlicher Schulen. In den 1990er Jahren wurde für sie Christsein zum Synonym für ein Votum zugunsten der Republikanischen Partei. Statistiken zeigen, dass die Religion seither rasant in den Hintergrund getreten ist. Erstaunlicherweise wurde dadurch die gesteigerte politisch-religiöse Selbstbestimmung sogar noch verstärkt.

Laut einer Umfrage aus dem Jahr 1972 glaubten damals mehr als 90 Prozent der US-Amerikaner an Gott, und nur 9 Prozent waren noch nie in einer Kirche gewesen. Im Jahr 2022 war der Anteil letzterer jedoch sprunghaft auf 33 Prozent gestiegen. Allein im Jahr 2019 wurden über viereinhalbtausend protestantische Gotteshäuser geschlossen. Auch die Evangelikalen machten da keine Ausnahme. Evangelikalen ist es nunmehr egal, ob ihr Lieblingskandidat eine biblische Weltanschauung hat. Demut, Frieden und Nächstenliebe sind für sie zweitrangig. Nur die Macht zählt.

Im Jahr 2011 stellte eine religiöse Institution die Frage, ob ein Politiker, der sich in seinem Privatleben unmoralisch verhält, in seiner öffentlichen Arbeit glaubwürdig sein könne. Von allen Religionsgruppen hatten weiße Evangelikale mit 30 Prozent den geringsten Zustimmungsprozentsatz. 2016 wiederholte dieselbe Institution den Test und diesmal antworteten schockierende 72 Prozent der Evangelikalen mit Ja. Das war der höchste Prozentsatz unter allen religiösen Gruppen.

Nach Jahren der Präsidentschaft Barack Obamas fühlten sie sich angegriffen. Sie sahen sich selbst als die am stärksten diskriminierte Religionsgruppe, stärker noch als die der Muslime. Ein so großer Meinungsumschwung innerhalb von nur fünf Jahren ist eigentlich ein Wunder – oder auch nicht. Die Evangelikalen akzeptierten und betrachteten Donald Trump einfach als ihren eigenen Kandidaten, dessen gravierende Charakterfehler nicht zu übersehen waren, doch sie glaubten und glauben bis heute, dass er ihren politischen Zielen am besten dient. Politik ist damit zur Ersatzreligion geworden.

Das alles hat vieles erklärt. Dennoch kann ich nicht behaupten, alles verstanden zu haben Die US-amerikanische Politik ist ins Reich der Absurdität abgedriftet. Absurdität ist aber nicht rational, weshalb sie schwer zu verstehen ist. Die jüngere Generation der USA will sie nicht einmal mehr verstehen, sie wendet sich von ihr ab.

Prof. Iván T. Berend, ungarischer Historiker, 1985-1990 Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, ab 1990 Professor an der University of California (UCLA), lebt in Los Angeles. Sein Text wurde übersetzt von Gabor Szasz.