27. Jahrgang | Nummer 11 | 20. Mai 2024

Christin Lutzes imaginäre Bildräume

von Klaus Hammer

Ihre Bilder – ausgestellt in der Galerie des Städtischen Museums Eisenhüttenstadt – tragen Titel wie „Blick in die Unendlichkeit“, „Tausend und eine Nacht“, „Der endlose Weg“, „Phantasia“, „Unsentimal journey“, „Im Sog der Perspektive“ oder „Utopia“, aber auch „Steiler Pfad“, „Abendlicht“, „Kahler Baum“ „Alte Mühle“ oder „Tagebau“. Sie legen Spuren, die weniger zu bilddeutenden Assoziationen als vielmehr zum Geheimnis des Bildes selbst führen sollen – und damit auf ein weites Interpretationsfeld.

Was stellen die Bilder der Berliner Malerin Christin Lutze dar? Farbintensive Architektur-Studien, Außen- und Innenräume, Landschaften, in denen sich rationale und surreale Elemente mischen? Menschen wird man darin vergebens suchen, aber überall trifft man auf deren Spuren. Imaginäre Räume, in denen real weder Perspektive noch architektonische Konstrukte so existieren könnten? Die Malerin verschiebt Blickwinkel, trennt und verbindet Ebenen, deformiert Außen- und Innenräume, reduziert und erweitert Distanzen. Treppen kommen von irgendwoher und führen nirgendwo hin, Wege verlaufen ins Unbekannte, offene Sichten sind dennoch verstellt. Es gibt zwar auch Farbfelder mit weichen und härteren Umrissen, aber eigentlich dominiert dann wieder konstruktive Strenge. Stabilisierende Elemente bilden ein Gerüst von Verstrebungen, so dass in der Tat ein schwebendes Stadtgefüge entstehen kann. Dann wieder atmende Offenheit, die keine Dominanz der Linie zulässt: Diffuse Farbfelder steigen in der Landschaft auf zu Zeichen von Häusern und einem blauen Wolkenfragment. Gegenständliches und Abstrahiertes, Vorder- und Hintergrund, auch Steigen und Fallen entwerfen eine offene Bildgestalt, in der jede Farbform sich auszudehnen scheint und in der immer wieder die Linie ein eindrucksvolles Signal setzt. Christin Lutze muss alles malend erfahren, Denkkonzepte helfen ihr da wenig.

Sind ihre Bilder Traumprotokolle? Einerseits bereichert der das Unbewusste formulierende Traum um die freie Imagination, andererseits sind die Brüche, die Aufhebung der Kausalität die Überraschungen – und Übertreibungen – des Traums entscheidend für ihre Bildwelt. Christin Lutzes Malerei hat wohl die Aufgabe, die einander fremden Motive zu homogenisieren, dem Unwahrscheinlichen die Anmutung des Wahrscheinlichen zu geben. Ihre Malweise ebnet die Unterschiede, das Heterogene bewusst ein, um dem Unwahrscheinlichen den Charakter von Wirklichem zu verleihen und auf diese Weise die Wahrnehmung des Wirklichen zu irritieren.

In ihren Vorstellungsbildern – so könnte man sie vielleicht auch nennen – entwickelt sie einen Formenvorrat, den sie wie traumhaft zu einem präzisen Bildaufbau zusammenstellt. Natürlich, das wie traumhafte Bilderfinden entstammt dem Surrealismus. Doch nicht das Zusammenhanglose ist ihr wichtig, eher ein Einfügen in andere Zusammenhänge, eine nicht restlos ausdeutbare Sinngebung, die sie durch den „gesteuerten Zufall“ erreicht. Die Reaktion des Unterbewusstseins wird provoziert durch die Zwiegesichtigkeit der Dinge, die sie erfahren, wenn man sie aus dem gewohnten Zusammenhang nimmt, und in anderen Zusammenhängen überraschend wieder auftauchen lässt. Ja, der Zufall spielt eine entscheidende Rolle, weil er kein Zufall der Sinnlosigkeit und des Unabsehbaren ist, sondern die Künstlerin in schöpferischer Auseinandersetzung, in dauernder Reaktion und Wachheit zu dem zwingt, was dauernd geschieht und entsteht. Ausgeklügelte Verblüffungseffekte sind das keinesfalls. Die in ihren Umrissen auseinanderklaffende Welt kreuzt ihre Brennpunkte, doch sie bleibt trotz aller Versuche heillos getrennt.

Auf jeden Fall sind ihre Bilder eine Erkundungsreise ins Ungewisse, Fremde, Abgründige, Zwielichtige, Mehrdeutige, in Fallen und Finten. Ebene, Horizont, Himmel – da hinein setzt sie unproportionale Fragmente, metamorphotische Gebilde, fremde Verdinglichungen. Fungiert der Bildraum als Bühne für ein erstarrtes, entfremdetes, mutiertes Leben? Ja, und das ist schon gesagt worden, die konstruktive Grundform kann durchaus zu einem magischen Erlebnis führen. Einmal durch die Setzung von Zeichen, die aus inneren Erfahrungen erfunden oder gefunden werden. Andererseits durch den traumartig-schwebenden Charakter, den diese Bildzeichen im Bildraum einnehmen. Surrealismus und konstruktive Kunst kommen hier zusammen. Aus fast absichtslos gesetzten Strichen und Formen ergibt sich das Bildzeichen eines wie auch immer beschaffenen Raumes.

Es ist nun das Licht, das die Gegenstände in ein klares, hartes, aber nie zärtliches Licht setzt. Christine Lutze erzeugt nicht die Illusion einer freundlichen Welt. Der Raum scheint durch die theaterhafte Perspektive vor dem Betrachter zurückzuweichen. Dieses Verlängern, das die entfernten Dinge noch viel entfernter erscheinen lässt, steht im Widerspruch zu einer kubistischen Flächigkeit und Komprimierung. Auf ihren Bildern ist die (Stadt-)-Landschaft jedoch leer. Man weiß nicht, man ahnt es nur, was sich in dieser kleinen Welt innerhalb des Bilderrahmens abspielt – und auch nicht, was in der großen Welt geschieht, in die das Bild einbezogen ist.

Was also vermitteln ihre Bilder? Den Eindruck von Weite, Einsamkeit, Verlassenheit, Unbeweglichkeit und Erstarrung? Vielleicht auch den Hintergrund für etwas Bevorstehendes, dessen Vorahnung uns Angst machen könnte? Oder aber eine wundersame Welt, in der sich Ruhe und Unruhe, Vergangenheit und Gegenwart, Gelebtes und Geträumtes begegnen? Doch Träume verschwinden und verlieren sich im Wachzustand, so dass man letztlich nicht mehr genau weiß, wo eigentlich das nicht geträumte Leben des Menschen anfängt.

Außergewöhnlich ist aber gerade die Dynamik des Raumes – durch die Lichtführung und die besondere Farbgebung. Christin Lutze malt keine Sonnenstrahlen und auch nicht das Sonnenlicht als atmosphärische Stimmung wie die Impressionisten. Sie macht Belichtung sichtbar, vor allem durch den Kontrast von Licht und Schatten, man könnte auch sagen, mit den Zonen weniger intensiver Belichtung. Da geht es um eine Art Wechselspiel, das selbst dem Bild eines menschenleeren Raums eine eigentümliche Dynamik verleiht. Hier scheint ihr das Paradox zu gelingen, die sich ständig verändernde Natur – das Sonnenlicht im Zusammenspiel mit Schatten – in einem eigentlich statischen Gemälde sichtbar zu machen.

Denn Landschaft ist bei Christin Lutze nicht ausschließlich arrangierte und in ihrer Dynamik eingefrorene Natur. Ihre Kunst soll zu Gedankenspielen anregen, zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem, was man sieht und zu sehen glaubt. Aus dieser Beschäftigung mit Kunst könnten ganz unvermutet neue Sichtweisen entstehen. Es bleibt bei ihr immer offen, was sich nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Bildes verbirgt.

Magisch ziehen die Farben – breite Farbbahnen wie ineinander verlaufende Valeurs in Rot, Gelb, Braun im Verbund mit Blau, aber auch Schwarz – den Betrachter in das Bild hinein. Emotional zusammengebaut, negieren sie jede Begrenzung, so dass schwarze Linien eine gewisse Ordnung herstellen müssen. Aber die Malerin sucht ja ihrer Bildvision aus unterschiedlichen Perspektiven näher zu kommen. Es ist, als arbeite sie sich ins Freie, als suche sie die latenten und rationalen Möglichkeiten ihrer Malerei tiefer auszuloten und konsequent weiterzutreiben. Wie gelangt man an die geheimnisvolle Substanz der Imagination, an das Unbekannte der Grenzzone, in der sich das Wesen der Bildvision vollzieht?

„Im Sog der Farben“. Christin Lutze – Malerei. Galerie des Städtischen Museums, Löwenstraße 4, Eisenhüttenstadt. Dienstag bis Freitag 12 – 16 Uhr, 1. und 3. Samstag im Monat 13 – 17 Uhr, bis 28. Juni.