Warum sehen wir heute professionelle stumme Filme? Vielleicht, weil sie alt und nostalgisch sind und die Technik für den Tonfilm vor 100 Jahren noch nicht ausgereift war. Oder weil allein auf ausdrucksstarke Bilder konzentrierte Filme dem künstlerischen Anliegen der Filmemacher besser entsprechen. Oder aber fehlen Texte, weil die Zensur so manchen Satz nicht verbreitet wissen will.
Letzteres trifft auf den heiteren, 1965/66 hauptsächlich in Dresden gedrehten, in manchem Motiv an Erich Kästner erinnernden DEFA-Film „Wenn du groß bist, lieber Adam“ zu. Da wurden mit Hilfe einer Zauberlampe Lügner entlarvt, und nicht nur Straßenhändler oder Dienstpersonal, sondern auch sozialistische Leiter oder NVA-Soldaten beim Fahneneid. Anfangs wurde das von zuständigen Funktionären augenzwinkernd hingenommen. Aber nach dem 11. SED-Plenum im Dezember 1965 kam der „Adam“ zusammen mit einem knappen Dutzend anderer Filme auf die schwarze Liste. Regisseur Egon Günther durfte den Film nicht fertigstellen. Erst 1990 wurde es ihm möglich, in alter avantgardistischer Manier zusammen mit seiner Schnittmeisterin (heute Editorin genannt) Monika Schindler eine fragmentarische Fassung des weitgehend abgedrehten Streifens herzustellen. Viele Töne waren verloren oder als Primärton schlecht zu verstehen. Günther ließ nicht durch Darsteller wie Gerry Wolff und Manfred Krug nachsynchronisieren (was nahegelegen hätte), sondern beließ diese Szenen stumm und blendete Drehbuchseiten ein, um die Eingriffe der Zensur deutlich zu machen.
Anfang des Jahrtausends stellte Egon Günther diese Fassung dem japanischen Publikum in Tokio vor, kürzlich lief sie erneut bei einer Präsentation an der dortigen Hosei-Universität. Es war die DVD-Premiere der untertitelten Fassung, die die Filmhistorikerin Keiko Yamane herstellen lassen hatte. Dr. Yamane, emeritierte Professorin dieser Uni, hatte in Frankfurt am Main studiert und später unter anderem an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg gearbeitet. Dort wurde sie in den neunziger Jahren mit dem DEFA-Erbe bekannt und fing Feuer. Sie initiierte in Zusammenarbeit mit der DEFA-Stiftung DVD-Editionen von Filmen aus der DDR und lud Filmemacher (so auch Egon Günther) zu Gesprächen ein. Als der „Adam“ nun untertitelt gezeigt wurde, entfachte er großes Interesse.
Dass ich das bezeugen kann, liegt daran, dass in dieser Veranstaltung auch ein zweiter Coup Keiko Yamanes gefeiert werden konnte. Kurz nachdem 2017 mein „Großes Lexikon der DEFA-Spielfilme“ in Berlin erschienen war, erhielt sie Kenntnis davon und meinte, mit diesem knapp 1200 Seiten starken Doppelband ein Stück europäischer Kulturgeschichte in den Händen zu halten. Sie scharte einen Kreis von Übersetzerinnen um sich und überzeugte den Verlag Choeisha aus der Präfektur Nagano davon, den Doppelband über das „abgeschlossene Sammelgebiet“ DDR in Japan herauszubringen. Jetzt war es so weit. Die beiden in edlem Blau gehaltenen Bände zeigen auf den Titelblättern Renate Krößner in „Solo Sunny“ sowie Vlastimil Bródsky und Henry Hübchen in „Jakob, der Lügner“, dem einzigen DEFA-Film mit einer Oscar-Nominierung. Hübchen hatte sich schon vor Jahren als Fan dieses Lexikons erwiesen, für das er uneigennützig bei öffentlichen Auftritten warb.
Professor Takefumi Tsutsui, auch Filmemacher, führte anschließend ein Gespräch mit mir und erwies sich als Kenner so wichtiger DEFA-Filme wie „Architekten“ von Peter Kahane. Er zeigte sich angetan von der Arbeit der Editorin Monika Schindler, die die meisten Filme von Egon Günther geschnitten hatte. Fragen aus dem Publikum betrafen auch die Ko-Produktionen der DEFA mit asiatischen Partnern. . So hatte der japanische Regisseur Masahiro Shinoda mit Unterstützung der DEFA-Regisseurin Evelyn Schmidt 1989 unter anderem an der Charité die Romanadaption „Die Tänzerin“ (Mahime) gedreht, in der Rolf Hoppe als Robert Koch auftrat.
Überraschenderweise sah ich am folgenden Abend in Tokio einen echten deutschen Stummfilm. Vor einem mit rund 150 Zuschauern voll besetzten Saal wurde der zweite Teil von Fritz Langs psychoanalytisch angehauchtem Sensationsfilm „Dr. Mabuse, der Spieler“ von 1922 gezeigt. Anders als in Mitteleuropa, wo stumme Filme mit Musikbegleitung gezeigt wurden, dominierte in Japan die Kunst der Benshi, die – aus der Tradition der Laterna Magica kommend – die Handlung kommentierten, den handelnden Personen die Stimme gaben. Wir erlebten Midori Sawato, die diese Kunst noch vom letzten großen Altmeister der Benshi gelernt hat und in Japan sehr bekannt ist. Frappierend, wie sie die Dialoge stimmlich voneinander absetzte und sich jeglicher Ironie (die sich deutsche Kommentatoren nicht verkneifen würden) enthielt. Im Gespräch mit ihr erfuhr ich, dass sie nicht nur als Benshi und als Schauspielerin arbeitet, sondern auch Absolventin der Hosei-Universität in Literaturwissenschaften ist. Auch sie hat Benshi-Schüler gefunden, die an diesem Abend Kurzversionen eines „Tarzan“-Films sowie des Bergfilms „Stürme über dem Mont Blanc“ von Arnold Fanck (1930) durch ihre Kunst zum spannenden Erlebnis werden ließen.
Wieder lieferbar: F.-B. Habel: Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme, Erweiterte Ausgabe in zwei Bänden. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2017, 1152 Seiten, 99 Euro.
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