Die Geschichte kennt Frauen meist nur in einer dieser drei Rollen: Ehefrau, Familienangehörige oder Muse. Die Historikerin, Journalistin und Moderatorin Leonie Schöler erweitert diesen Blickwinkel immens und eröffnet damit auch neue Perspektiven nicht nur auf die Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, sondern auch auf tradierte Vorstellungen über Triebkräfte und Ursachen gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Wegweisend für ihre Überlegungen ist das abgewandelte Bonmot „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt, vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält“.
Die dadurch eingeengte Sichtweise beginne schon mit der Deutung von Ausgrabungen – lange Zeit wurde selbstverständlich jedes Grab, das Waffen enthielt oder auf eine Führungsposition zu Lebzeiten hinwies, automatisch einem Mann zugeordnet. Es wird gerade erst angefangen, dieses von sexistischen Vorurteilen geprägte Bild der menschlichen Existenz zu hinterfragen. Leonie Schöler gibt dazu wichtige Anstöße.
Ein Kapitel ihres Buches wendet sich „Frauen in den Revolutionen“ bzw. „auf den Barrikaden“ zu. Nicht erst während der französischen Revolution fiel die öffentliche Bewertung je nach Geschlecht unterschiedlich aus: Männer wurden für ihre politischen Taten zur Rechenschaft gezogen, Frauen primär dafür bestraft, dass sie ihrer vermeintlich natürlichen Rolle als Hausfrau und Mutter nicht nachgekommen wären. Sie wurden als Furien gebrandmarkt und ihr Verruf überdauerte Jahrhunderte. Die meisten Namen (bis auf den der Verfasserin der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin: Olympe de Gouges) sind heute vergessen. Doch nicht nur ihre Namen und ihr Wirken seien vergessen, letzteres wird häufig Männern zugeordnet. Wenn doch einmal an sie erinnert würde, dann eher über ihr Wesen und ihren Lebensstil als über ihre Tätigkeit und deren Ergebnisse.
Ähnliches gilt für Frauen, die sich in Männerkleidern an der ungarischen Revolution im 19. Jahrhundert beteiligten – Mária Nyáry, Janka Szentpáli, Appolonia Jagiellonian und Mária Czizmárovits sind überlieferte Namen. In dieser Armee gab hier jedoch keine einheitlichen Regeln: Einige der Frauen durften weiter Dienst tun, wenn sie ihre Verkleidung aufrecht erhielten, wurden hinter die Front versetzt oder unehrenhaft entlassen, manche sogar mit Gefängnisaufenthalt bestraft. Hart traf es auch Frauen in der Roten Armee bzw. in den Partisanengruppen während des Großen Vaterländischen Krieges. Nicht nur, dass sie häufig nur eine ungenügende Ausbildung bekamen (von entsprechender Kleidung und Hygieneartikeln ganz zu schweigen) und trotzdem an die vorderste Front geschickt wurden, vor allem nach dem Krieg wurde ihr Kampf kaum gewürdigt (weder mit entsprechenden Auszeichnungen noch Nennungen in den Geschichtsbüchern), im Gegenteil, sie wurden als „rote Huren“ beschimpft und gesellschaftlich ausgegrenzt. Sie wurden teils unehrenhaft entlassen, zunächst nicht zu offiziellen Gedenktagen eingeladen und in der Öffentlichkeit als „Frontschlampen“ und Soldatenflittchen beschimpft. Die Nationalsozialisten hatten die Weisung ausgegeben, dass Frauen in Uniform sofort zu erschießen seien.
Gleiche Missachtung traf Frauen, die sich an kolonialen Befreiungskämpfen beteiligten. Hier kam hinzu, dass sie keine Unterstützung aus den Reihen der weißen Frauenbewegung erhielten. Ihre Namen sind kaum bekannt – einige von ihnen hat Jasmin Lörchner in „Nicht nur Heldinnen. 20 Frauen, die Geschichte schrieben“ (Herder Verlag Freiburg im Breisgau 2023) gewürdigt. Auch die in den Texten von Karl Marx anvisierte proletarische Revolution sollte Weiß sein.
Ein weiteres Thema, dem sich Leonie Schöler zuwendet, betrifft Frauen in der Wissenschaft – für die ihre Möglichkeiten, sich entsprechend zu betätigen, meist mit der Ehe endeten. Sie nennt es Matilda-Effekt. Frauen durften dann bestenfalls noch ihren Ehemännern zuarbeiten, deren Texte abschreiben oder Korrespondenz erledigen. Die amerikanische Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage stellte dazu Ende des 19. Jahrhunderts fest, dass „je mehr eine Frau arbeitet, desto mehr profitieren die Männer in ihrer Umgebung davon und desto weniger Anerkennung wird ihr selbst zuteil“. Frauen waren nach der Eheschließung davon abhängig, dass ihre Männer ihnen erlaubten, sich an deren Forschungen zu beteiligen. Als Beispiele werden angeführt: die Hirnforscherin Cécile Voigt, die Physikerin Marie Curie, Mileva Einstein, die Chemikerin Clara Immerwahr (Ehefrau von Fritz Haber, dem Erfinder des Gaskrieges) und viele weitere. Ein besonderes Thema ist dabei der Umgang mit jüdischen Wissenschaftlerinnen. Oftmals wird hier Lise Meitner und ihre gelungene Flucht nach Schweden sowie die weitere Forschung mit Otto Hahn angeführt. Zur historischen Wahrheit gehöre aber auch, dass Schweden die deutschen Behörden extra darum gebeten habe, ein gut leserliches „J“ in die Pässe von Jüdinnen und Juden zu stempeln, um sie im Asylverfahren besser aussortieren zu können. Bis 1942 wurden sie dort nicht als politische Flüchtlinge anerkannt.
In Deutschland, Österreich und Kroatiens durften Frauen nur bis zur Eheschließung Beamtinnen bleiben. Leonie Schöler wählt daher zu recht die Kapitelüberschrift „Warum zu heiraten sich für Frauen nicht lohnt“. Sie setzt fort mit der Analyse der Auswirkungen des Lockdowns auf Frauen, insbesondere Wissenschaftlerinnen, deren Publikationszahlen in dieser Zeit drastisch zurück gingen. Dies ist einer der hervorhebenswerten Aspekte des Buches – die Verknüpfung historischer Entwicklungen mit aktuellen Verhältnissen. Neben inzwischen allbekannten Tatsachen wie dem Gender-pay-gap analysiert sie den Migrations-pay-gap und verweist darauf, dass die Einkommensunterschiede zwischen lesbischen und schwulen Paaren deutlich ausgeglichener sind als zwischen heterosexuellen Paaren. Diese Situation, die sich dann auch auf die Rente auswirkt, so ihre Einschätzung, ist nicht ein Fehler im System, sondern sie ist das System.
In die von ihr beschriebene Reihe der ausgenutzten Frauen gehöre auch Jenny Marx, die zumindest Teile des Manifests der Kommunistischen Partei mitgeschrieben habe, ohne dass ihr Name in diesem Zusammenhang genannt wurde. Nicht nur, dass die berühmte Ikone Karl Marx seiner Tochter Eleanor einen eigenen Beruf verwehrt habe (er brauchte sie als kostenlose Kraft zum Abschreiben seiner unleserlichen Texte bzw. als Übersetzerin und zum Regeln seiner Termine). Er hasste auch ihre Freundschaften außerhalb des von ihm einberufenen Kreises. In die Linie der von ihm ausgenutzten Frauen gehört zweifellos auch die Haushälterin Lenchen Demuth. Auch den Forderungen der Frauenrechtlerinnen seiner Zeit schloss er sich nicht an. So wäre er dagegen gewesen, dass Frauen politische Rechte wie das Wahlrecht erhalten sollten. Es klaffe also eine riesige Lücke zwischen dem eigenen Anspruch bzw. dem, was man in der Theorie vorgeben möchte, und dem, was man tatsächlich lebt.
Gleiches habe für Walter Gropius und das Bauhaus gegolten. Auch dort hätten viele Künstlerinnen über Sexismus, die Arroganz und die grundlegende Ungleichbehandlung durch Kommilitonen, Professoren und Vorgesetzte geklagt. Ähnliches ließe sich über Bertolt Brecht und seine Mitarbeiterinnen sagen.
Frauen in der Kunst ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem Leonie Schöler etwa analysiert, wieviel Galerien sich für Ausstellungen ausschließlich von Frauen öffnen oder welche Preise Kunstwerke von Frauen bei Auktionen erzielen. Auch die Leserschaft differenziere deutlich nach Geschlecht: Die zehn größten Bestsellerautorinnen bringen es auf gerade einmal 19 Prozent männlicher Leser. In der Münchner Neuen Pinakothek seien von 1000 Werken nur 40 von Frauen.
Weiter geht es dann mit einem Blick auf Auszeichnungen. Diese waren ursprünglich nur für Bereiche wie Sport und Militär vorgesehen und damit Frauen per se ausgeschlossen. Heute hat sich dies zwar verändert, in den Gremien und Komitees sitzen jedoch hauptsächlich Männer, die wiederum ihresgleichen bevorzugen (so bei der Vergabe von Nobelpreisen). Dies widerspiegele sich ebenso in der Leitung von berühmten Forschungseinrichtungen – von den bis heute berufenen 691 Leitungskräften der Max-Planck-Gesellschaft und ihrer Einrichtungen sind nur 13 Personen weiblich. Insofern sei es auch kein Wunder, dass bei einer 2014 europaweit durchgeführten Studie nur ein Prozent der Befragten zehn berühmte Wissenschaftlerinnen aufzählen konnte.
Sport und der lange Kampf von Frauen um Durchführung bestimmter Sportarten bzw. Teilnahme an olympischen Spielen ist ein eigenes Sujet im Buch. Hier gibt es Verweise auf Argumente, die heute eher zum Schmunzeln einladen, damals jedoch gravierende Folgen für die Frauen hatten: So durften Frauen bis 1972 nicht an Marathonläufen teilnehmen, da ihnen beim Laufen längerer Strecken die Gebärmutter herausfallen könnte. Bis heute sind Sportvereine und Preisgelder für Frauen unterfinanziert und kaum geklärt ist das Regelwerk für Sportler, die nicht den binären Geschlechtsmerkmalen unterliegen. Auch hier säßen an der Spitze der Entscheidungskomitees weiße Männer, die keinen Grund hätten, diese unfairen Bedingungen zu ändern – aber es wurde festgelegt, dass Transfrauen nicht mehr im Damenschach antreten dürften …
Neben einem umfangreichen Literatur- und Quellenverzeichnis enthält das Buch auch zahlreiche Anregungen zum Weiterlesen – so Mann denn will.
Leonie Schöler: Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte. Penguin Verlag, München 2024, 416 Seiten. 22,00 Euro.
Schlagwörter: Frauen, Geschichte, Leonie Schöler, Viola Schubert-Lehnhardt