Die Autorinnen Brigitte Studer und Regina Scheer waren im März der Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Berliner Landesstiftung Helle Panke zu einem Gespräch über ihre Bücher „Die Reisenden der Weltrevolution“ und „Bittere Brunnen“ gefolgt. Die Schweizer Historikerin Brigitte Studer hat das Leben von Menschen vieler Länder nachgezeichnet, die zwischen 1919 und 1943 für die Komintern gearbeitet hatten. Scheers „Bittere Brunnen“ wiederum, ausgezeichnet mit dem Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse 2023, ist eine Biographie, die das Leben von Hertha Gordon-Walcher (1894-1990) verfolgt (siehe Blättchen 16/2023).
Nach der gut besuchten Veranstaltung im Münzenberg-Saal am Berliner Franz-Mehring-Platz sprach mich Ricarda Bethke an. Vor Jahren hatte sie sich mit der Frage an mich gewandt, ob ich bei den Recherchen über ihren Vater helfen könne. Doch die Suche im Komintern-Archiv war leider erfolglos. Es gab keine Kaderakte von Richard Schmincke, der unter anderem als Kurier für den Nachrichtendienst der Komintern tätig war. Auch in den Dossiers zur Arbeit der „Abteilung für Internationale Verbindungen“ tauchte sein Name nicht auf.
Ausgehend von den im Familienarchiv erhaltenen Aufzeichnungen ihrer Mutter ging Ricarda Bethke den überlieferten Spuren nach und wurde in anderen Archiven fündig. Die Ergebnisse ihrer akribischen Recherchen fanden Eingang in das 2021 veröffentliche materialgesättigte Buch „Rotes Erbe. Auf der Suche nach Richard Schmincke, meinem Vater“.
Im Unterschied zu Regina Scheer, die sich in ihrem Buch ebenfalls auf mündliche und schriftliche Überlieferungen stützt, weist Ricarda Bethke ihre Quellen genau aus. 1995, nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sie begonnen, über deren „Erzählungen weit hinauszugehen“. Ihre Arbeitsweise ähnelt der von Brigitte Studer: „Die Historikerin verfügt nicht über die künstlerischen Freiheiten […] Lücken mit Phantasie zu füllen, ist verboten. Jede Aussage muss durch Quellen gestützt werden und diese haben bekanntlich ein Vetorecht.“
„Das Intime und Sinnliche, das mir sehr wichtig ist“, heißt es in Bethkes Einleitung, „musste zurücktreten hinter den Ergebnissen einer intensiven Recherche in Archiven und Bibliotheken. Das Nachprüfen und Nachlesen zwang mich zum sachlichen Bericht, zum Nachweis, zum Quellenzitat. […] Dazu kommt, dass ich immer, sowohl im Erzählten als auch im Dokumentierten, einen Bezug herstelle zu meinen eigenen Lebenserfahrungen, meinem eigenen Denken und Handeln, soweit es von diesem Vater und dessen Leben bestimmt wurde.“
Am 19. August 1939, Ricarda war zwei Monate jung, nahm sich Richard Schmincke das Leben. Was hat ihn getrieben? War es Hoffnungslosigkeit, war es Angst? Das sowjetisch-deutsche Handels- und Kreditabkommen war unter Dach und Fach, die Absprachen über den Nichtangriffspakt liefen auf Hochtouren. Anders als seine Ärzte-Kollegen, das Ehepaar Ruben-Wolf, lehnte Schmincke es ab, in die UdSSR zu emigrieren. Er hatte, wie sie, das Land zuvor bereist, an einem Ärztekongress teilgenommen, er kannte die Volkskommissare für Auswärtiges und für das Gesundheitswesen, hatte während seiner Aufenthalte in China und Japan zusammen mit anderen Ärzten Sun Yat Sen behandelt. Er gehört in die Reihe der „Reisenden der Weltrevolution“. Seine begeisterten Schilderungen über den sozialistischen Aufbau in Russland, von der Tochter zitiert, ähneln denen der Ruben-Wolfs in ihrem 1931 veröffentlichten Buch „Im freien Asien“.
Woher die Ernüchterung? War es der Schweizer Anarchist und spätere Kommunist Fritz Brupbacher, der dem Freund die Augen öffnete? Ricarda Bethke kann diese Frage nur aufwerfen, aber nicht schlüssig beantworten. Von 1933 bis 1939, schreibt sie, befand sich Schmincke „ständig auf der Flucht vor der Flucht“.
Am Ende des Buches notiert die Autorin dennoch: „Ich habe diesen Mann, der mein Vater war, nie gekannt. Fast denke ich jetzt, ich kenne niemanden so gut wie ihn.“
Ricarda Bethke: Rotes Erbe. Auf der Suche nach Richard Schmincke, meinem Vater. Vergangenheitsverlag, Berlin 2021, 335 Seiten, 20 Euro.
Schlagwörter: Komintern, Ricarda Bethke, Richard Schmincke, Sowjetunion, Wladislaw Hedeler