27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

„Produkthaftung“ für Texte zum Zeitgeschehen

von Herbert Bertsch

Was jetzt passiert,

ist die totale Besetzung mit Gegenwart

 

Heiner Müller, Zur Lage der Nation, 1990

 

Und, wenn Müllers „jetzt“ zeitlich heute wäre? Mehr denn je, falls „total“ steigerungsfähig ist. Mit weitreichender Auswirkung auf Theorie und Praxis des Zeitgeschehens und der Zeitgeschichte.

„Die Geschichtsforschung steht in dieser Situation vor zwei untrennbar miteinander verknüpften Herausforderungen: Wie kommen wir mit der schwierigen Vergangenheit zurecht, und kann die Geschichte bei der Lösung der Probleme der heutigen Welt behilflich sein? […] Die jeweilige Gegenwart, unsere eigene Zeit, interpretiert die Vergangenheit für die Bedürfnisse von Morgen, um auf die Politik von Morgen Einfluß zu nehmen. Die Zukunft ist somit die wichtigste Wirkungsdimension der Geschichte, und genau das verstehe ich unter dem öffentlichen Gebrauch der Geschichte.“

Das Eingangszitat mit eingeschlossenem Bekenntnis stammt vom finnischen Historiker Seppo Hentilä, der mit den deutschen Problemen in Verbindung mit der finnischen Neutralität vertraut ist; ich verweise auf „Finnlandisierung“ als umstrittenen Kampfbegriff mit Ähnlichkeiten und mittelbaren Langzeitwirkungen bis in unsere Tage. Dabei geht es nicht nur um Finnland als Objekt in geostrategischer Hinsicht während des West-Ost-Konflikts. Weder wurde Finnland eine Volksdemokratie noch ein Frontstaat des Westens. Da sich Finnland bei abgesicherten Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion „handelspolitisch im Westen integrierte“, so Hentilä, „entwickelte es sich zu einem nordischen Wohlfahrtsstaat mit einem der weltweit höchsten Lebensniveaus.“ Den Finnen ging es also gut, aber dem Westen mißfiel  diese Konstellation ohne sonst übliche Einflußmöglichkeiten auf andere Staaten.

Nicht zufällig wurde 1966 von der Bundesrepublik, personell von Rix Löwenthal, seinerzeit bei Willy Brandt beratend zu internationaler Sicherheit tätig, eine internationale Diskussion angeregt, womit der Begriff „Finnlandisierung“ Karriere machte. In Finnland selbst gab es in der wechselvollen Geschichte mit Russland hinreichend gegenläufige Tendenzen zu der durch Präsident Urho Kekkonen charakterisierten Vertragspolitik mit der Sowjetunion. Löwenthal hatte aber weniger Finnland im Sinn, als Westberlin mit der Besorgnis, dass trotz der Mauer mit stabilisierender Funktion weitere Ambitionen der Sowjetunion ins politische Haus stehen könnten. Strategisches Ziel dieser Aktion: Für Deutschland als Ganzes, einen Teilstaat oder auch nur Westberlin käme nichts vom Finnland-Modell infrage.

Im weiteren Verlauf der Geschichte verkehrten sich die Gegebenheiten. Inzwischen ist das Höchststadium der Einbeziehung Finnlands in den „Westen“ erreicht. Im Nordwesten Europas weht die NATO-Flagge über der Ostsee – einstmals als „Meer des Friedens“ Sinnbild von Ko-Existenz, die mit der Schlussakte von Helsinki den einmaligen Höhepunkt erreichte.

Nun gibt es europaweit nur Kapitalismus, Russland und andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion eingeschlossen; allerdings auch dort mit seinen Widersprüchen. Aber ohne retardierende Einwirkung des sozialistischen Systems, dem der Ruch beigegeben war, letztlich die Ursache allen weltpolitischen Übels zu sein. Für dessen weiteres Wirken muss es demnach doch andere Ursachen geben. Seinerzeit war vom „Militärisch-industriellen Komplex“ die Rede. „Unbestreitbar ist Amerikas Industrie mehr als andere westliche Industrien von der Waffenherstellung abhängig geworden. Es macht eben einen Unterschied, ob eine Wirtschaft dauerhaft einen hohen Rüstungsanteil aufweist oder ob sie kurzfristig, für eine Kriegsperiode, auf einen hohen Wehranteil umschalten muß“ (Der Spiegel, 31/1989).

Gegenwärtig werden die Prioritäten nicht nur restauriert; bald herrscht Idealzustand: Der Absatz für kriegerisches Gerät haussiert bei gesicherter Vernichtung der Produkte, die von Dritten bis in Ewigkeiten hinaus honoriert werden. „Mit dem Haushaltsposten Militärhilfe bezahlt Deutschland laut Bericht Kriegsgüter, die die Ukraine direkt bei der Industrie einkauft. Außerdem werden damit Nachbestellungen von Waffen finanziert, die die Bundeswehr an die ukrainische Armee abgegeben hat.“ (dpa-AFX, 19.05.2024). Dazu mehr als nur eine Fußnote: In Deutschland haben wir auch schon eigene Profiteure. Der Aktienkurs von „Rheinmetall“ stand vor Jahresfrist bereits bei 250, dieser Tage bei 524 mit 5,70 Euro Dividende.

Die Umstellung zur direkten und mittelbaren Kriegswirtschaft in der gegenwärtigen Gesellschaftsepoche bedarf freilich einer hinreichenden Akzeptanz der jeweiligen Bevölkerung, die auf parteiischer Infiltration bei relativ ausgeprägter Toleranz beruht. Entgegen dem Prinzip der Vielfalt als demokratischer Wert wird ein Mainstream aufgebaut, der „alternativlos“ das Ziel erreichen soll. „In der Welt finden sich zahlreiche Beispiele dafür, wie die Geschichte auf Wahrheiten festgelegt wird, die von den Machthabern als richtige, im äußersten Falle als einzig richtige Wahrheiten angesehen werden“, befindet Hentilä und setzt bedauernd hinzu: „Bestimmte Produkte der politischen Geschichtsforschung sind zur Handelsware mit eigenen Märkten geworden.“

Der Kreis der dabei Tätigen läßt sich unschwer auf Politiker, Berater, Autoren, Politikwissenschaftler, auf Aktivisten, Experten und allseits Interessierte erweitern. Das verwirrende Ergebnis der zahlreichen Wortmeldungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen veranlasst Hentlä, beim Wunsch nach Regulierung einen Vorschlag seines Kollegen Juhani Suomi zu erneuern: Wir brauchen EU-weit ein „Produkthaftungsgesetz für Geschichtsschreibung“. Das war und bleibt vermutlich illusionär, ist aber auch nicht nur ein charmanter Einfall. Demnach hätten wir es dann mit diesen Regeln zu tun: „Jeder Hersteller eines Produktes haftet für die Fehler des Produktes. Hersteller ist dabei nicht nur der eigentliche Produzent der Ware, sondern auch der Hersteller eines Teilprodukts, das noch in ein anderes Produkt eingebaut wird. [….] Wird ein fehlerhaftes Produkt hergestellt, das einen Menschen tötet oder verletzt oder wird eine Sache beschädigt, haftet der Hersteller des fehlerhaften Produkts und muß den Geschädigten den Schaden ersetzen.“ Wie wäre es, wenn wir gerade in diesen Zeiten auch ohne sanktionierende Gesetzlichkeit sorgsamer mit unseren Produkten umgehen würden?

Nehmen wir mal den fast als Gemeineigentum genutzten Satz: „Was nützt die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?“ Eine zusätzliche Modifizierung des Textes inbegriffen. Letzteres verdanken wir wohl nicht dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, wenngleich zu seinem Ministeramt passend aktualisiert, sondern Hugo Müller-Vogg bei Fokus Online am 1. März 2024: „Was nützt die beste liberale Steuerpolitik, wenn die Russen kommen.“

Der Satz stammt von Joseph Friedrich Naumann (1860 bis 1919), einem evangelischen Theologen. Er blieb bei der Sozialpolitik, aber nicht bei den Sozialdemokraten, sondern bei den Liberalen, deren Politik er die soziale Komponente hinzufügte. Überlagert wurde dies allerdings durch die Begeisterung für nationale Macht und Größe. Die FDP befand ihn als Namensgeber ihrer „Stiftung für Freiheit“ geeignet, was ihr 2011 den Vorwurf des Historikers Götz Aly einbrachte, mit Naumann „eine Leiche im Keller der FDP“ zu haben.

Ob von Helmut Kohl, von Christian Lindner oder einer Unzahl anderer Nutznießer gebraucht, ist es erklärte Absicht, damit Russland zaristisch, mit Sowjetsystem oder ohne, als Erbfeind Deutschlands zu stilisieren. Wie beim Erbfeind Frankreich ging und geht es darum, dem Gegner aggressive Absichten und Handlungen zu unterstellen, denen man bis einschließlich Präventivschlag begegnen müsse und könne. Wer prüft da schon, ob man sich bei der ideologischen Armierung zu großzügig verhält, zum Beispiel falsch interpretiert.

Am 14. Juli 1895 erschien unter dem Rubrum „Wochenschau“ der Zeitschrift DIE HILFE Naumanns Angriff auf die „falsche Konzeption“ der Sozialdemokratie in der nationalen Frage. Beginnend mit dem benannten Satz, heißt es dann weiter: „Wer innere Politik treiben will, der muß erst Volk, Vaterland und Grenzen sichern, der muß für nationale Macht sorgen. Hier ist der schwächste Punkt der Sozialdemokratie. Wir brauchen einen Sozialismus, der regierungsfähig ist. Regierungsfähig heißt: fähig, bessere Gesamtpolitik zu treiben als bisher. Ein solcher regierungsfähiger Sozialismus ist bis jetzt nicht vorhanden. Ein solcher Sozialismus muß deutsch-national sein.“ Soweit das Original. Außer dem ersten Satz ist keine Rede davon, dass man an der Ostgrenze akut eine Invasion zu befürchten habe. Die Benennung eines traditionellen Schreckgespensts dient eindeutig als Mittel zum Angriff auf eine Konkurrenzpartei im Kaiserreich, nicht auf Russland gezielt. Die gegenwärtige Nutzung des Satzes als Nachweis für die ständige Bedrohung aus dem Osten ist also unredlich interpretiert; vermutete Unkenntnis ist fahrlässig. Kurz: Ein Fall für Produkthaftung.

Die Nutzung außenpolitischer Aspekte als Anspielwand bei der Auseinandersetzung der deutschen Parteien zur Wählergewinnung ist allerdings Legion, verstärkt durch Nutzung von Auslandsbeziehungen. Und da sind wir mittendrin. Während dieser Niederschrift wird gemeldet, dass Außenministerin Baerbock „zum 7ten Besuch in der Ukraine eingetroffen ist“. Den schmallippigen Bericht der FAZ vom 21. Mai kommentiert ihr Leser „Dealer 38“: „Oh Mann, das überfallene Land für Wahlkampfbilder zu nutzen, ist allerunterste Schublade“. Ein weiterer Fall für Produkthaftung.