27. Jahrgang | Nummer 9 | 22. April 2024

Pufferküsser

von Jutta Grieser

Wie die Überschrift vermuten lässt, geht es hier um Liebe. Denn wo geknutscht wird, Judas- und Bruderküsse einmal ausgenommen, herrscht Zuneigung. Mit Puffer sind natürlich keine Kartoffelpuffer gemeint, sondern eben jene so benannten Hörner an den beiden Enden von Eisenbahnwaggons. Diese Knautschzone erfüllt im Unterschied zur Stoßstange am Auto tatsächlich noch ihren Zweck. Sie ist aus Stahl und nicht nur optische Täuschung. Wegen dieser unverfälschten Echtheit lieben viele Menschen die Eisenbahn, insbesondere die dampfenden Loks aus dem verflossenen Jahrtausend. Diese Fans bilden die riesige Gemeinde der Pufferküsser.

Wolfgang Scherz aus Fürth im Odenwald (nicht aus dem bei Nürnberg) würde sich nie als Pufferküsser bezeichnen, obwohl bis in die Haarspitze der Eisenbahn zugetan. Er ist Oberamtsrat a.D. und verbrachte den größten Teil seines Lebens – Scherz ist Jahrgang 1949 ­– bei der Bahn. Wie schon sein Vater und sein Großvater, „Beamte im gehobenen technischen Dienst“, wie er nicht ohne Stolz schreibt, Bauingenieure. Wie er selbst auch.

Ende der achtziger Jahre war Scherz in der Zentrale der Deutschen Bundesbahn (DB) in Frankfurt am Main für die Organisation der Einrichtungen des Außendienstes zuständig: Bahnhöfe, Bahnmeistereien, Reparaturwerke … Die DB war extrem reformierungs- und sanierungsbedürftig und steckte tief in den roten Zahlen. Bereits Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte in den siebziger Jahren befunden, dass sich die Bundesrepublik nur einen Staatsbetrieb leisten könne – entweder die Bundeswehr oder die Bundesbahn. Zwei würden selbst die reiche BRD überfordern: zu teuer, zu schwerfällig, zu ineffizient. Geändert hatte sich dadurch aber nichts. Und nun plötzlich sahen etliche 1989/90 die Chance, mit der deutschen Einheit den eigenen Laden zu renovieren. Auch Scherz. Man schickte ihn in die DDR mit der Maßgabe zu eruieren, ob und wie man die sozialistische Ostbahn – die noch immer antiquiert Deutsche Reichsbahn (DR) hieß – mit der Behördenbahn des Westens zusammenführen könne, um daraus etwas Neues zu formen.

Allerdings zögerte man „oben“ auch ein wenig, weil man fürchtete, dem eigenen Schuldenberg dadurch einen weiteren hinzuzufügen. Schließlich war angeblich die ganze DDR pleite, also musste es auch deren Staatsbahn sein.

Ostern 1990 studierte Scherz erstmals die Bilanzen der DR und bemerkte, oh Wunder, die Ostbahn schrieb schwarze Zahlen, machte sogar ordentlich Gewinn. Wie war das möglich? Er telefonierte – zu Ostern! – mit dem Stellvertretenden Generaldirektor in der DDR-Hauptstadt. Und erlebte seine zweite Überraschung. Der Mann saß nicht nur am heiligen Feiertage in seinem Büro und arbeitete. Der „hatte alle Zahlen, alle technischen Parameter und dergleichen im Kopf. Die Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen, der musste nicht nachschlagen oder groß sein Gehirn zermartern. Der hatte alles parat.“ Ein vergleichbares Gespräch mit seinen westdeutschen Chefs, bemerkt Scherz an dieser Stelle lakonisch, wäre schon nach wenigen Minuten mit einem Verweis auf die Mitarbeiter zu Ende gewesen.

Scherz fand in den folgenden Monaten seinen ersten positiven Eindruck bestätigt. Die Osteisenbahner waren bestens ausgebildet, hoch qualifiziert und motiviert. Sie engagierten sich und offenbarten eine erstaunliche Arbeitsethik, die im Westen nur noch in Rudimenten existierte. Die Bahn sei wie der „kleine Bruder der NVA“ organisiert gewesen, bemerkt er, weil ins System der Landesverteidigung eingebunden, daher auch die anfängliche Geheimniskrämerei, die ihn aber nicht sonderlich erregte. „Das eine System funktionierte halt so, und das andere eben auf seine Weise.“

Wesentlich stärker beeindruckte Scherz jedoch: Obgleich das Schienennetz der DDR erheblich kleiner war als das im Westen, beförderte die DR wesentlich mehr Güter auf der Schiene als die Bundesbahn. Was natürlich der Umwelt zugutekam. Auch wenn die Personenzüge in der Regel überfüllt waren: Sie fuhren pünktlich, der Fahrplan wurde eingehalten. Trotz verschlissenen Fuhrparks und Schienennetzes. „Die Reichsbahn war ein verlässlicher Partner für die Bürger und für die Wirtschaft“, schreibt Scherz anerkennend. Die Fachleute hätten Fahrpläne unter den Bedingungen eines stark reparaturbedürftigen Betriebes konzipiert. „Wenn zum Beispiel eine Brücke marode war, über die man nicht mit 140 km/h (das war die zulässige Maximalgeschwindigkeit für Doppelstockwagen – J.G.) fahren konnte und auf Tempo 30 drosseln musste, wurde das im Fahrplan berücksichtigt. Darum funktionierte er auch.“

Wolfgang Scherz wurde zum Geschäftsführer des Projektes „Zusammenführung von Deutscher Reichs- und Bundesbahn und Bildung einer Aktiengesellschaft“ berufen und die rechte Hand des schwäbischen Industriemanagers Heinz Dürr, der 1991 sowohl Präsident der Deutschen Bundesbahn als auch Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn geworden war. Mit der Fusion der beiden Bahnen und der Bildung der Deutschen Bahn AG 1994 endete der Job von Scherz. Wie kein Zweiter war er die ganze Zeit an exponierter Stelle dabei, Macher und exklusiver Zeitzeuge zugleich, wie aus seinen Erinnerungen ersichtlich ist.

Wenn man diese aufmerksam liest und von ihrem erzählenden Beiwerk befreit, werden die Gründe erkennbar, warum die Zusammenführung so geräuschlos vonstattenging.

Die entscheidende Ursache war wohl, dass „die Regierung Modrow und die Regierung in Bonn“ entschieden hatten, dass die Reichsbahn „nicht in die Zuständigkeit der Finanzminister“ kam, sprich: der Treuhandanstalt unterstellt wurde.

Zweitens dass der liberale Dürr die Weisung des Bundesinnenministeriums zum Umgang mit Führungskräften aus dem Osten, die eine „besondere persönliche Nähe zum System der DDR“ gehabt hatten, weitgehend ignorierte. „Waren wir dabei? Verstehen wir die Umstände? Haben wir das Recht, den Stab über diese Menschen zu brechen? Nein, das haben wir nicht!“, begründete er gegenüber Scherz seine eigenständige Haltung. Die befähigten und bewährten Kader wurden nicht vom Hof gejagt, sondern blieben. Außerdem: Die DR-Kadervorschrift „war recht modern. Man hätte sie in jedem westlichen Unternehmen einsetzen können, um erfolgreich Führungskräfte zu entdecken und zu fördern. Man hätte nur die Worte sozialistisch und SED streichen müssen, dann hätte man sofort danach arbeiten können. Das waren klare, fachlich hervorragende Richtlinien.“

Drittens schließlich unterblieben Massenentlassungen, die Mehrheit der fast eine Viertelmillion Reichsbahner blieb in Lohn und Brot. „Betriebsbedingte Kündigungen“ gab es nur in Mukran auf Rügen, dem größten Eisenbahn-Fährhafen Deutschlands, weil der Handel mit der Sowjetunion dramatisch einbrach. Nur 125 Arbeitsplätze blieben dort übrig. Die DDR hatte seinerzeit zwei Milliarden Mark in dieses große Verkehrsbauprojekt investiert …

Wolfgang Scherz näherte sich neugierig und vorurteilsfrei seinen Kollegen in der DDR. Das unterschied ihn von den meisten seiner westdeutschen Landsleute, die mit Buschzulage zur Safari in den Osten aufbrachen. Er räumt allerdings ehrlich ein: „Ganz werde ich es (gemeint ist das System des realexistierenden Sozialismus – J.G.) nie begreifen.“ Er sei eben im Westen sozialisiert. „Diese Einsicht half mir auch zu verstehen, weshalb die Ostdeutschen genervt sind, wenn ihnen Westdeutsche erklären, wie die Ossis in der DDR gelebt haben.“ Viele Freundschaften, die er damals schloss, bestehen heute noch. Er habe erfahren: „Freundschaft ist systemunabhängig. Ein unvoreingenommener Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen eröffnet neue wundervolle Möglichkeiten.“ Seine Zeit im Osten habe ihn verändert, resümiert er am Ende seines sehr aufschlussreichen Buches. „Ich bin kritischer, vor allem nachdenklicher geworden.“ Gegenüber sich selbst, gegenüber seinem Umfeld.

Zum gegenwärtigen Zustand der Bahn schweigt Scherz beredt. Er habe 2007 den Bahnkonzern verlassen. Das nennt man Loyalität.

Und was hat die heutige Bahn von der DDR-Bahn übernommen? Die Doppelstockwagen. Die hatte man zu Beginn der neunziger Jahre naserümpfend abgelehnt, weil die DDR damit nur die Arbeitermassen kostengünstig zu ihren Produktionsstätten befördern wollte. Das hatte man nicht nötig, im Westen reiste man vornehm und bequem. Bis man sich korrigierte (wie bei anderen sinnvollen Einrichtungen der DDR, etwa den Kindergärten oder den Polikliniken) Am 27. Januar 2011 schrieb die Neue Zürcher Zeitung zum Thema Doppelstockwagen: “Bei der DB dagegen ließ das sozialistische Vorbild keinen ernsthaften Gedanken daran aufkommen“, jedoch: „Heute laufen über 2.300 Doppelstockwagen allein bei der DB.“ Und das war vor dreizehn Jahren.

 

Wolfgang Scherz: Auf neuen Gleisen. Die Abwicklung der Deutschen Reichsbahn, Das Neue Berlin, Berlin 2024, 224 Seiten, 20,00 Euro.