27. Jahrgang | Nummer 9 | 22. April 2024

Nach 40 Jahren wiedergelesen: „Der fremde Freund / Drachenblut“ von Christoph Hein

von Klaus Hammer

Die Ideale waren desavouiert, die Botschaften verschlissen, nichts schien sich mehr zu bewegen; Stagnation machte sich breit, das Leben schien vielen ein falsches, leeres, sinnloses und auswegloses: In dieser Zeit, 1982, erschien im Aufbau-Verlag die Novelle „Der fremde Freund“ – im Westen kam sie ein Jahr später aus urheberrechtlichen Gründen unter dem Titel „Drachenblut“ heraus –, die sofort in die Diskussion geriet und ihren Autor Christoph Hein international bekannt machte. Dieser hatte hier die Bestandsaufnahme eines Zustandes, nicht die Schilderung eines Entwicklungsprozesses unternommen.

Nie hat Hein in Abrede gestellt, dass die ihn umgebenden Verhältnisse auch sein Schreiben beeinflusst haben. In seiner Rede über die Verdrängung der stalinistischen Hinterlassenschaft in der DDR – im September 1989 – bekannte er, dass es ihn psychisch krank mache, in einem Land zu leben, dessen Bürger es verlassen wollen: „Es macht mich krank, weil die Gesellschaft irgendwo krank ist.“ Die Diagnose der Gesellschaft in seinen Werken ist auch die der Krankheit der Gesellschaft.

So suchte er auch in der Geschichte der Ärztin Claudia, die in „Der fremde Freund / Drachenblut“ scheinbar fühllos über sich selbst berichtet, die alles unter Kontrolle, „alles im Griff“ zu haben glaubt, – wie Hein es 1991 in einem Gespräch formulierte – „etwas von dem zu benennen, was ich gesehen habe, was vorhanden, fast unübersehbar war. Es war für mich eine DDR-Geschichte. Aber sie wurde in 40 Ländern übersetzt, und auch an den Briefen aus sehr unterschiedlichen Ländern merkte ich, dass da offenbar noch etwas war, was auch in anderen Ländern vorhanden ist. In der ‚New York Times’ hieß es dann […]: Die Frau lebe in Ostberlin, aber das Barometer stehe auf der gleichen Stelle wie in New York. Also ist da irgendetwas Übergreifendes, und ich vermute nachträglich, dass es eben etwas mit dem Stand der Zivilisation zu tun hat, die ja doch in den sonst so politisch so unterschiedlichen Ländern vergleichbar ist“.

So entstand in der Ich-Erzählerin jene Claudia, die zwar als Ärztin in Ost-Berlin praktiziert, aber als Produkt der modernen Zivilisationsgesellschaft sowohl in der östlichen wie in der westlichen Hemisphäre leben könnte, das literarische Porträt einer Egomanin. Aus Furcht vor dem Verlust der Fremdheit, in die sie geflüchtet ist, aus Furcht vor den Verpflichtungen sich selbst und den anderen gegenüber werden ihre Tätigkeiten zu peniblen Zwangsritualen, denn auch ihr Fotografieren einer „entseelten Natur, die ich erschuf und die mich nun zu überfluten droht“, ist nichts anderes. Diese Ich-Figur hat systematisch alle Empfindungen abgebaut, Wünsche, Hoffnungen, Ängste, Zweifel, Einsichten, Absichten, Verzweiflung, Verstricktsein in das, was man Schicksal nennt, ebenso wie Mut und Zuversicht zur Überwindung von Situationen. So lebt sie dahin, ohne Erwartung, ohne Glücksanspruch. Das Leben ist für sie nur noch „eine Bewegung, die zu nichts führt, die keine Überraschungen, Abweichungen, Sommerzeiten, Unregelmäßigkeiten kennt und deren einzige Sensation der irgendwann eingetretene Stillstand ist“. Wenn man mit Goethe eine Novelle als „unerhörte Begebenheit“ bezeichnet, dann ist das Leben dieser Claudia in der Tat schrecklicher als das – so Hein –, was Henry, ihrem getrennt von seiner Familie lebenden „Freund“, passiert. Denn dessen Tod ist Mord aus Langeweile.

Für die Ich-Figur Claudia bleibt so nur die tödliche Wiederkehr des Gleichen. Christoph Heins Stück Prosa endet in einer Art Kreisform: „Ich bin gewitzt, abgebrüht, durchschaue alles. Mich wird nichts mehr überraschen. Ich vermeide es enttäuscht zu werden. Ich bin auf alles eingerichtet, gegen alles gewappnet, mich wird nichts mehr verletzen.“

Hein dramatisiert nicht, weder Abschreckung noch Mitleid ist von ihm beabsichtigt. Mit penibler Genauigkeit, Dingschärfe und akkurater Detailtreue wird hier eine Lebensgeschichte erzählt, werden Verhaltens- und Denkweisen dargestellt, die die Chance neuer menschlicher Beziehungen ignorieren, wird die Selbstenthüllung einer Figur verbunden mit dem Verzicht auf Selbst- und Weltveränderung.

Hein schreibt im eigentlichen Sinne Rollenprosa. Denn hier wirken zwei unterschiedliche Leseperspektiven und Lesemodelle zusammen, ihre Verbindung und Interaktion machen die Irritation und zugleich Faszination von Heins Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“ aus. Der Leser ist aufgefordert, durch die Erzählerin Claudia im doppelten Sinne des Wortes zu sehen: unter ihrem Text den versteckten Untertext – den „Schrei nach wirklichem Leben“ – und gleichzeitig die Gesellschaft aus ihrer Optik zu betrachten: Nichts an sich herankommen zu lassen, was beunruhigen könnte. In dieser Doppelfunktion des Erzählens nimmt das Ich die Doppelposition von Subjekt und Beobachter ein. Subjekt und Untertext stellen das eine Lesemodell dar. Es funktioniert mit Hilfe der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe, Gesagtem und Ungesagtem. Indem Claudia sich weigert, sich selbst zu überprüfen, und alles verdrängt – das Wiederfinden der begrabenen Vergangenheit, die heilende Macht der Erinnerung –, nimmt die blanke Oberfläche von Bildern (Abziehbildern), die aufeinander folgen, ohne eine tiefe Spur zu hinterlassen, den Platz des abwesenden Ich ein. Das Ich Claudia wird durch die Beobachterin Claudia ersetzt, an die Stelle von Selbsterleben, Selbsterfahren tritt kühle, distanzierte Registration. Und genau diese Blockierung der Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schneidet jede Zukunft ab.

Die Aufklärung der Gegenwart hängt ab vom Verstehen der Vergangenheit, dem Wissen meiner eigenen Geschichte und der Geschichte der Gesellschaft. Der Kontrast zwischen (abwesendem) Ich und (anwesendem) Beobachter in Claudias Text dürfte also auf mehr hinweisen als auf den Bericht einer blockierten Identität. Ihre – nur scheinbare – soziale Emanzipation ist praktisch mit völliger emotionaler Verarmung erkauft.

Heins Aufklärung der äußeren Erscheinungen sind Oberflächenprotokolle der Überlebensstrategien eines perfekt funktionierenden Ich. Die emanzipierte, funktionelle Beziehung zwischen Claudia und Henry, diesen beiden Fremden, wird aufrechterhalten durch das Nichtvorhandensein von Kommunikation, durch Kälte, Langeweile und Entfremdung. Beide versuchen zu leben, zu überleben, indem sie sich von ihrer Vergangenheit wie Zukunft lösen. Ihre Gegenwart aber ist erfüllt von der Leere des Wartens darauf, dass etwas geschieht. Aber diese „Normalität“ hat auch ihren gefährdeten und gefährlichen Untergrund. Der fremde Freund Henry wird von einem Siebzehnjährigen erschlagen. Unter der Oberfläche der Normalität sitzen Aggression, Brutalität, Verunsicherung.

„Alles, was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüsste nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut“, war Claudias Devise. Ihr „Mir geht es gut“ ist die schlimmste Bankrotterklärung des Ich und damit einer Gesellschaft, die dem Einzelnen Identität, das Leben in sich selbst, verweigert. Es ist aber darüber hinaus die Frage nach dem Preis der Zivilisation in der modernen Gesellschaft, sowohl im Osten als auch im Westen. Die ganze Zivilisationsgesellschaft ist eine Verdrängungsgesellschaft, konstatiert Christoph Hein. Wem es gelingt, sich mit dieser Verdrängung abzufinden, dem geht es gut in dieser Zivilisation. Aber der dafür in Gestalt emotionaler Selbstverstümmelung zu zahlende individuelle Preis ist ungeheuer hoch.

Kann mit Literatur Realität verändert oder lediglich reflektiert werden – der Streit scheint vorerst zugunsten derer entschieden, die eher skeptisch sind und der Wirkkraft von Literatur nur sehr kurzzeitige Impulse zubilligen. Steter Tropfen, heißt es, höhlt den Stein. Und wie philosophiert Shakespeares Narr in „Was ihr wollt?“ Denn der Regen, sagt er, der regnet jeglichen Tag. Und er fällt von oben nach unten, wusste Brecht.

Heute weltweit bekannt, hat Christoph Hein, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, am 8. April sein 80. Lebensjahr vollendet.