27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Freischwimmer

von Jutta Grieser

Als fünftes von sechs Kindern einer armen Familie im Ruhrgebiet geboren, endete einst sein Horizont im Süden im Sauerland, im Norden im südlichen Münsterland, im Osten auf der Soester Börde und im Westen ungefähr in Oberhausen, schreibt Bernhard Weßling. Er ist Jahrgang 1951. Als Jugendlicher und junger Erwachsener sei er „extrem provinziell“ und sein Horizont „sehr eng“ gewesen. Erst fünfzehn Jahre nach dem Abitur habe er seine erste (geschäftliche) Auslandsreise unternommen. Die ging in die USA, es folgte Japan. Dann aber gründete der promovierte Chemiker ein Unternehmen, das Chemikalien für Leiterplatten produzierte, und ging nach China. Dreizehn Jahre blieb er im Reich der Mitte und forschte dort weiter zu elektrisch leitfähigen Polymeren; er verfügt inzwischen – nunmehr auch Investor und Geschäftsführer auf einem Biobauernhof auf halbem Wege zwischen Hamburg und Lübeck – über dreißig internationale Patente. Dazu kommen noch anderthalbhundert wissenschaftliche und technische Publikationen … Und nebenbei ist er auch ein erfolgreicher Fotograf und engagierter Naturschützer. Der Verlag nennt ihn mit allem Recht ein Multitalent.

Bernhard Weßling hat ein Buch geschrieben, das sich von den vielen von der edition ost bisher verlegten Publikationen zu China unterscheidet: nicht in der Tendenz, wohl aber in der Perspektive. Bei den bisherigen China-Büchern dominierten die Draufsicht, die politische Analyse und monothematische Arbeiten. Die meisten Autoren – durchweg Chinareisende und Landeskundige (was sie von der Mehrheit der vielen Journalisten hierzulande, die sich über China auslassen, unterscheidet) – hatten immer das große Ganze, die aufstrebende Weltmacht und ihre Entwicklung im Blick. Weßling hingegen erlebte das Land von unten und berichtet auch aus dieser Perspektive. „Ich beschreibe nur, was ich in den vielen Jahren mit den vielen Chinesen, die mich umgeben haben, erlebt habe; Erlebnisse mit den Chinesen, die ich auf den Straßen kennenlernte, Chinesen, mit denen ich einen Teil meiner Freizeit verbrachte, Chinesen, mit denen ich gearbeitet bzw. Geschäfte gemacht habe. In China war ich fast ausschließlich mit Chinesen zusammen.“

Das ist nur vordergründig frei von Politik, denn im Alltag der Menschen, mit denen Weßling lebt, arbeitet, Fußball spielt und Geschäfte macht, spiegelt sich natürlich der Charakter der Gesellschaft. Und der ist nicht nur reich an Traditionen, sondern auch politisch. Nicht nur, weil die Kommunistische Partei das Sagen hat und China sich als sozialistischer Staat versteht. Er sei darum „voll mit Vorurteilen, Ängsten und Befürchtungen“ ins kalte Wasser gesprungen, unsicher, ob er dort jemals würde schwimmen, also überleben können. „Die Entwicklungen der Jahre zuvor und das, was ich ständig in Büchern und Zeitungsartikeln las, im Fernsehen sah und hörte, empfand ich aber als Aufforderung, es zu tun.“ Da kam also die Neugier des Forschers durch.

2001 begleitete Unternehmer Weßling Bundeskanzler Gerhard Schröder bei dessen China-Reise, er gehörte zur fünfzigköpfigen Wirtschaftsdelegation. Vier Jahre später ging er allein und blieb im Land, vor dem er sich doch eigentlich fürchtete. „Als ich meine ersten Überlegungen hierzu mit Verwandten, Freunden, Bekannten, Mitgesellschaftern und Geschäftspartnern teilte, bekam ich auch nur Bedenken und Warnungen zu hören.“

Er setzte sich darüber hinweg und tauchte ins chinesische Leben ein. Und das hat er aufgeschrieben. Ungefiltert und frei von den Zwängen, unter denen China-Korrespondenten mehrheitlich zu stehen scheinen, nämlich christlich-abendländische Vorurteile und Klischees bedienen zu müssen. Bernhard Weßling näherte sich den Chinesen vorurteilsfrei und voller Empathie und notierte, was er selbst gesehen, erlebt, erfahren hat. Das mache „den größten Charme des Buches aus“, urteilte die Berliner Zeitung.

Weniger charmant finde ich Weßlings Ehrgeiz, im Buch eine eigene, mindestens aber eine von den bekannten Transkriptionen abweichende Schreibweise von Namen und Begriffen zu kreieren, sowie seinen ehrpussligen Einsatz diakritischer Zeichen und chinesischer Schriftbilder (in Klammern). Wem will er damit etwas beweisen? Da setzte sich der Wissenschaftler über den Erzähler hinweg, und der Lektor hat ihn offenkundig dabei gewähren lassen. Geschenkt. Unterm Strich steht der beachtliche Text eines selbstzweifelnden, reagiblen Mannes, der sich dennoch weder vom Mainstream noch von anderen Vorgaben in seiner Wahrnehmung und seinem Urteil hat beeindrucken lassen. Ich selbst war wiederholt in der Volksrepublik und finde in Weßlings Text meine Beobachtungen bestätigt.

Und darum bedrückt es ihn und mich und viele andere, wie mit China umgegangen wird. Wir Europäer, die wir doch auf dem Kontinent der Aufklärung leben, neigen dazu, die Welt mit unseren Maßstäben zu messen. Helmut Schmidt, der die Volksrepublik oft als Privatier besuchte, es war sein Lieblingsreiseland, warnte immer davor, Vorgänge in China mit der europäischen Elle zu messen. Wir sollten auf die westliche Überheblichkeit verzichten und der ältesten Kulturnation der Welt mit dem nötigen Respekt begegnen, wiederholte er ein ums andere Mal. „Jeder von uns muss noch ein bisschen was dazulernen.“

Weßling lernte viel dazu. Auch Chinesisch. Das ist vollkommen anders als jede europäische Sprache. Während die Grammatik relativ einfach ist, sind Aussprache und Betonung sehr schwer, so kann man einem einzigen Wort ein halbes Dutzend verschiedene Bedeutungen geben. Ich selbst war einmal Zeuge eines unmöglichen Gespräches zwischen einem Mann aus Beijing und einem Mönch in Tibet: Sie verstanden einander nicht, obgleich sie in der gleichen Sprache miteinander zu kommunizieren versuchten.

Weßling machte die Erfahrung, welche schon viele Nichtchinesen vor ihm machen mussten und auch noch künftig machen werden. „Wenn Ausländer Chinesisch sprechen, werden sie trotzdem oft nicht verstanden, meistens weil die Intonation einfach nicht stimmt, manchmal aber auch, weil Chinesen nicht erwarten, dass ein Ausländer chinesisch sprechen würde.“ Wegen des Akzents klinge das nicht wie Chinesisch, sondern wie English. Mit diesem Wissen entwickelte Weßling einen Spruch (auf Chinesisch), der bei seinen Vorträgen immer für große Heiterkeit bei seinen chinesischen Zuhörern sorgte: „Fürchtet nicht Himmel noch Erde, fürchtet nur, wenn Ausländer Mandarin sprechen.“ Womit er entschuldigte, dass er seinen Vortrag lieber auf Englisch hielt. Inzwischen wird in der Volksrepublik an den meisten Schulen bereits ab der 1. Klasse Englisch gelehrt. Mit Chinesisch wird man halt kein Global Player.

Weßlings Buch vermittelt plastisch, wie man sich unten, an der chinesischen Basis, darauf vorbereitet, in die Welt zu gehen. Provinzialität und Enge, wie sie einst der heranwachsende Autor in seiner westdeutschen Heimat erfuhr, sind den jungen Chinesen fremd.

Bernhard Weßling: Mein Sprung ins kalte Wasser. Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten. verlag am park (in der edition ost), 402 Seiten, 24,00 Euro.