27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Bahnbrecher

von Bruni Butzke

Die Deutsche Bahn und die Lokführer-Gewerkschaft haben sich nach etlichen Streiks und Schäden für die deutsche Wirtschaft in Höhe von mehreren Hundert Millionen Euro inzwischen geeinigt. Ganz zu schweigen von den leidtragenden Millionen Menschen, die ihre Bahnreise nicht antreten konnten oder irgendwo ins Nichts gerieten. Öffentliche Daseinsvorsorge sieht anders aus.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing hatte noch während der Streikaktionen gedroht, er werde jetzt nicht eingreifen, aber dann gesetzliche Regelungen prüfen lassen, die das Streikgeschehen in sensiblen Bereichen der Infrastruktur und öffentlichen Daseinsvorsorge gesetzlich regulieren. Solche Regelungen gibt es bisher nicht, lediglich das grundgesetzlich verbriefte Streikrecht und dazugehörige Gerichtsurteile, ferner die Tarifautonomie. Als der Minister dies androhte, kritisierten andere Gewerkschaftsbosse sofort Weselsky, er möge doch maßhalten, um den Gesetzgeber nicht aufzuscheuchen – was selbiger dann auch prompt tat. Spannend wird sein, ob Wissing seine Ankündigung umsetzt.

Das eigentliche Problem der Bahn aber ist der Neoliberalismus. Der beginnt hier bereits unter Kanzler Kohl (CDU). Mit Stichtag 1. Januar 1994 wurde eine sogenannte Bahnreform in Kraft gesetzt. Aus der Deutschen Bundesbahn im Westen und der Deutschen Reichsbahn im Osten wurde die privatrechtlich organisierte Deutsche Bahn AG geschaffen. Der Bund blieb alleiniger Eigentümer, sollte sich aber nicht mehr in das operative Geschäft einmischen und nur noch bei strategischen Entscheidungen mitwirken. Damit wurde auch eine Entschuldung der Bahn durch den Bund vorgenommen. Das waren im Jahre 1993 umgerechnet 34 Milliarden Euro.

Zugleich war von „Wettbewerb“ die Rede. Der „Markt“ auf der Schiene wurde auch für private Eisenbahnunternehmen geöffnet. Die Zuständigkeit für den Nahverkehr der Bahn schob der Bund auf die Bundesländer. Sinkende Marktanteile der Schiene im Personen- und Güterverkehr und finanzielle Defizite prägten zuvor das Bild der beiden deutschen Staatsbahnen. Der damalige Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann (CDU), einer der Väter dieses Projekts, versuchte es mit optimistischen Verheißungen: „Wir können vor allem den Menschen die Hoffnung vermitteln, dass sich ein modernes Dienstleistungsunternehmen immer mehr entwickeln wird. Das eben befreit ist von den Fesseln der Behördenstruktur. Und daher auch mehr Verkehr auf die Schiene ziehen kann. Ein verkehrspolitisches Jahrhundertwerk hat mal jemand gesagt.“

Das reale Bild sah dann zunächst anders aus. Aus „Kostengründen“ wurden „unrentable“ Strecken und Bahnhöfe stillgelegt. Viele Städte wurden von der Schienenanbindung getrennt, Bahnhöfe verfielen oder wurden zu Fitnessstudios oder Imbissbuden privatisiert. Der Bahnreform von 1994 folgte ein zweiter Schritt. Anfang 1999 wurden fünf eigenständige Aktiengesellschaften unter dem Dach der Holding Bahn AG gegründet. Aus dem Unternehmensbereich Personennahverkehr wurde die DB Regio AG, aus der Güterverkehrssparte die DB Cargo AG. Nach dem Willen der Politik sollte nun auch eine Teil-Privatisierung des Unternehmens erfolgen, über einen Börsengang der Bahn. Die entsprechenden Pläne sahen eine Veräußerung der Bahn bis zu einem Anteil von 24,9 Prozent vor; Illusionisten gingen von dem stattlichen Erlös von rund acht Milliarden Euro aus.

Dies war dann schon die Zeit der neoliberalen Heilsversprechen. Kanzler Schröder (SPD) machte 1999 den aus der Privatwirtschaft kommenden Hartmut Mehdorn zum neuen Vorstandschef der Deutschen Bahn; der blieb zehn Jahre. Er versprach, das Unternehmen entsprechend zuzurichten, durch raschen Strukturumbau, neues Management, eine Verbesserung des Fernverkehrsangebotes sowie ein neues Preissystem im Personenfernverkehr. 

Zuerst funktionierte das bei der Luftfahrt abgekupferte Preissystem nicht, weil dies den eingewöhnten Üblichkeiten des Bahnreisens in Deutschland widersprach. Dann gingen auch die anderen Rechnungen nicht auf. Übrig blieben die überall sichtbaren Bahnhofsruinen. Am Ende machte die Finanzkrise von 2008 den hochfliegenden Plänen einen Strich durch die Rechnung. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) stoppte den Börsengang im Oktober 2008. Zu diesem Zeitpunkt wurde nur noch die Hälfte der einst geplanten Erlöse erwartet. Seitdem liegt der Börsengang auf Eis.

Gleichwohl hatte man in der Schröder-Mehdorn-Zeit alle Winkel der Bahn unter neoliberaler Perspektive betriebswirtschaftlich ausgeleuchtet. Als überflüssig erachtete „Reserven“ an Menschen und Material, Lokomotiven und Waggons wurden beseitigt. Die hatten aber seit dem 19. Jahrhundert, von der Kaiserzeit bis zur Reichsbahn der DDR eine Funktion: Ging eine Lok kaputt, hatte man eine Ersatzlok zur Verfügung, wurde ein Lokführer unversehens krank, saß ein anderer in Bereitschaft. Aber man dachte, das neumodische Just-in-time-Prinzip der globalisierten Produktionsweise ließe sich auch auf die Bahn aufpfropfen.

Die wohl gravierendste Folge der Bahnprivatisierung ist der drastische Personalabbau. Anfang 1994 hatte die gesamtdeutsche Bahn etwa 350.000 Beschäftigte; heute sind es bei der DB noch etwa 230.000. So kann es passieren, dass man an einem ganz normalen Tag auf einen Berliner S-Bahnhof kommt, und es fährt keine Bahn. Rbb24 meldete am 26. März kurz nach 10 Uhr: „S-Bahn-Verkehr im Norden Berlins läuft nach Unterbrechung wieder an“. Es gab aber weder einen Schienenbruch noch einen Unfall, auch keine Kinder oder Kühe auf den Gleisen. Vielmehr hieß es: „Wegen eines kurzfristigen Personalausfalls waren am Dienstagmorgen die nördlichen S-Bahn-Linien in Berlin unterbrochen.“ Das betraf die Linien zwischen Pankow und Karow sowie Pankow und Blankenburg. Es war sogar Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet worden. Stolz teilte die S-Bahn dann mit: „Ersatz für den fehlenden Fahrdienstleiter sei mittlerweile vor Ort.“ Zuvor hatte die Bahn auf ihrer Homepage unter „Störungen“ mitgeteilt: „Aufgrund eines kurzfristigen Personalausfalls im Stellwerk Blankenburg …“

Der Spätkapitalismus in seiner neoliberalen Gestalt fault auch auf der Schiene.