27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Russland kritisch erklärt

von Dieter Segert

Katharina Bluhm, Soziologin am Osteuropainstitut der Freien Universität Berlin, erklärt uns, was ihr Ziel beim Schreiben des Buches war: Sie wollte gegen vereinfachte Erklärungen der russischen Entwicklung, gegen die verbreitete „Putinologie“, die das personalistische autoritäre Regime als eine Ein-Mann-Diktatur ohne gesellschaftliche Einbettung beschreibt, ihre eigene kritische Analyse der Entwicklung Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion setzen. Auch der Behauptung einer schicksalhaften Fixierung Russlands durch eine jahrhundertealte autoritäre Kultur, wie sie etwa Orlando Figes („Eine Geschichte Russlands“) unternimmt, steht sie kritisch gegenüber. Demgegenüber betont Bluhm mehrfach eine Neuformierung des russischen illiberalen Konservatismus aus der Tragik der 1990er Jahre. Eine konkrete Antwort auf eine konkrete Lage. Das Instrumentarium ihrer Analyse verortet sie auf dem Feld der „historischen Soziologie“ Dazu kommt noch eine Abwehr des oberflächlichen Faschismusvorwurfs von Akademikern gegen Russland, der vor allem in den ersten Monaten nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine inflationär verwendet wurde. Hier erwähnt sie einen der prominenten Autoren dieser Deutung, Timothy Snyder, und setzt seinem Verdikt zwei Argumente entgegen: Zum einen werde „Faschismus“ als politischer Kampfbegriff genutzt, wodurch er per se das Ziel einer nüchterne Analyse des Gegebenen verfehle. Zum anderen wird untersucht, was den historischen Faschismus, dessen negative Aufladung durch seine unvergleichlichen Verbrechen bei der aktuellen Verwendung immer genutzt wird, eigentlich ausgemacht hat. Hierbei geht es um die Struktur jenes Regimes. Mit den Merkmalen einer Gesinnungspartei, die das Machtmonopol des Staates nicht anerkennt, und einer Massenmobilisierung, die einer ideologischen Motivierung bedarf, sind zwei Erscheinungen benannt, an denen sich jede autoritäre Herrschaftsform als faschistisch messen lässt. Auf Russland trifft das Attribut „faschistisch“ so bemessen keinesfalls zu: Die konservative Staatsideologie ist keine radikale Erneuerungsideologie, die Partei der Macht keine Gesinnungspartei. Und außerdem ließe sich nicht erklären, warum Russland im globalen Süden die bekannte Unterstützung bekommt, wenn es sich um einen faschistischen Staat handeln würde.

Das beides ist schon von Nutzen für eine Orientierung in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte. Der eigentliche Kern des Buches ist jedoch das, was die Autorin dem entgegensetzt, um uns Russland zu erklären. Es sind viele ihrer Einsichten, die sowohl den Wandel von Kultur, Politik und Gesellschaft Russlands in den vergangenen drei Jahrzehnten als auch die mögliche zukünftig erwartbare Entwicklung des Landes besser verständlich machen. Katharina Bluhm hat dafür ein breites Spektrum sozialwissenschaftlicher Literatur ausgewertet und dabei – das unterscheidet sie von vielen anderen Sozialwissenschaftlern, die über Russland arbeiten – in großem Umfang die Analysen und Interpretationen russischsprachiger Autoren in deren Landessprache gelesen, lesen können. Sie hat diese Sprachkenntnis frühzeitig erworben und außerdem während eines Forschungsaufenthalts an der bekannten Hochschule für Ökonomie (Higher School of Economics) in Moskau wichtige Hinweise auf die innerrussische Debatte der letzten Jahrzehnte erhalten.

Das Buch informiert uns über die geistigen Akteure eines „illiberalen Konservatismus“, deren Konzepte und Ideen, sowie ihren Einfluss auf den sich herausbildenden Staatskonservatismus Russlands. Bluhm betont, dass die illiberal-konservative Bewegung nicht zu irgendetwas Früherem zurückwill, weder zum zaristischen Russland noch zur Sowjetunion, „sondern es geht ihr um den zukünftigen Platz Russlands in einer sich verändernden Welt“. Dabei ist das Buch nicht auf der Suche nach dem einen oder den einigen ideologischen Einflüsterern Putins, sondern beobachtet einen „Kampf der Programme“ zwischen relevanten geistigen Strömungen, der sich vor dem Hintergrund sich wandelnder Problemkonstellationen in den 1990er Jahre, nach 2000 beziehungsweise 2012 vollzieht.

Die Beziehung zur Politik des „Westens“ spielt auch immer eine Rolle, zumindest als Referenzpunkt für seine russischen Kritiker. Dabei betrachtet die Autorin aber vornehmlich den innerrussischen Wandel, ausgehend von internen Problemkonstellationen und dem Streit zwischen russischen Akteuren. Ihre besondere Aufmerksamkeit gehört den konzeptionellen Ideologen, der Debatte zwischen russischen Liberalen und drei Strömungen des illiberalen-konservativen Lagers, wobei sie sich besonders um die Darstellung der Debatten über den Gang der wirtschaftlichen Transformation und auf dem Feld eurasischer Interpretationen des russischen Weges kümmert.

Das wäre auch ein Punkt meiner Kritik an diesem Buch. Die tatsächliche Einwirkung der Politik des „Westens“ auf Russland, sowohl auf dem Feld der Wirtschaft als auch auf dem der Sicherheitspolitik, wird von der Autorin nur am Rande behandelt, etwa wenn sie über die Situation Russlands in den 1990er Jahren schreibt. Natürlich können nicht alle Triebkräfte des Wandels des territorial größten Staates der Erde in einem einzigen Buch zufriedenstellend behandelt werden. Aber wenn ein Buch mit der Darstellung des zum Krieg fähigen Staates endet (also mit der Frage, wie der Ukraine-Krieg zu begreifen ist), dann lässt sich das ohne diesen Aspekt des Problems nicht ausreichend gut verstehen. Das wird auch daran deutlich, dass die Autorin an einer Stelle, bei der Erklärung der Positionen der russischen Sicherheitsakteure (der „Silowiki“) über die „vermeintlichen Sicherheitsinteressen“ Russlands schreibt. Was wohl den Stellenwert der subjektiven Wahrnehmung bei der Formulierung von Politik ausdrücken soll. Oder wenn das Buch unterstreicht, dass der illiberale Konservatismus von einem „Zerrbild des Liberalismus und der Globalisierung“ lebt. Damit wird zwar zu Recht unterstrichen, dass die antiliberale konservative Antwort auf den westlichen Einfluss ebenfalls eine subjektive Komponente hat. Beide Annahmen werden allerdings der tatsächlichen Sicherheitslage Russlands und der Strategie des „Westens“ dem Land gegenüber nicht gerecht.

Vieles wäre noch zu erwähnen, um dem reichen Inhalt des Buches gerecht zu werden, die Analyse der wirtschaftlichen Problemlage nach 1991 und der Versuche ihrer produktiven Lösung, die Vielzahl von analysierten Akteurskonstellationen oder der anregende Verweis auf die Verfassungsänderungen von 2020. Aber eine Rezension soll ja vor allem zum eigenen Lesen anregen, was hoffentlich gelungen ist.

Katharina Bluhm: „Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik nach dem Ende der Sowjetunion“. Matthes & Seitz, Berlin 2023, 490 Seiten, 34,00 Euro.