27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Landschaftsbilder im „Nirgendwo“

von Klaus Hammer

Bild „2023 März #3, 2023“ (Öl und Acryl auf Leinwand): Der Betrachter taucht ein in das scheinbare Nichts des gemalten Gegenübers – ein saugendes Blau der Fläche. Ein das Bild unten durchziehender Lichtstreifen – die Monochromie eher steigernd als unterbrechend – ist in präzisen Proportionsverhältnissen der Grundfarbe schwebend eingebunden. Entscheidend ist für die Berliner Malerin Susanne Maurer das kleine oder große Format, mit dem sie das Verhältnis von Bild und Betrachter bestimmen will. Denn nicht mehr die Perspektive wird akzeptiert, sondern das Bild soll mit aller Macht über den Betrachter kommen, suggestiv soll sich dieser ins Bild hineingezogen fühlen.

„Der Blick hangelt sich irgendwie am Horizont entlang und zeigt das Darüber und Darunter“, so hat sich Susanne Maurer einmal über ihre Bilder geäußert. Deren Aufbau erfolgt mittels unregelmäßiger und regelmäßiger Strukturen. Sie verlangt die klassische Vieldimensionalität des gemalten Bildes, das den farbigen Ausdruck, die lineare Zeichnung und die Integration des Raumes mit Hilfe von Farbe und Zeichnung beinhalten soll. Eine diaphane Linie wird entworfen, eine Raumgrenze, die gleichsam im unendlichen Raum schwebt und zwischen seiner schwebenden Linie einen Teil des Raumes einschließt, der sich darunter oder darüber, davor oder dahinter weiter ausdehnt, gewissermaßen als Spannungsgegensatz von begrenzter und unbegrenzter Räumlichkeit. Die Form dieser diaphanen Horizontlinie wird von ihr manchen Wandlungen unterworfen, vom lockeren, mit dem Umraum verbundenen bis zum im Raum schwebenden Gebilde, einer Art von „Raumstation“, könnte man etwas kühn sagen.

Es gibt in den Bildern von Susanne Maurer keine Gestalten mehr, wohl aber Ort- und Landschaften – erfundene Landschaften, die sie im Atelier ersinnt –, Himmel, Wolken, Erde, Wasser und Berge, aber keinerlei Handlung. Es herrscht vollkommene Windstille; nichts bewegt sich oder wird bewegt; die Bilder sind mehr gerafft, zwar noch nicht abstrakt, aber auf dem Wege dahin, und die Gefühle nähern sich einer Art von Trancezustand – dem Nullpunkt der Versenkung. Die Teilungen und Intervalle zwischen den Farbflächen lassen an einen Horizont, eine Erdformation oder an eine Wolkenbank denken und ordnen so das Bild direkt der Landschaftsmalerei zu. Es besteht mehr als eine nur oberflächliche Ähnlichkeit zwischen den lichterfüllten Flächen von Meer und Himmel in einem Seestück etwa der klassischen Moderne und den schwebenden farbigen Rechtecken, die bei dem amerikanisch-lettischen Maler des Abstrakten Expressionismus und Wegbereiter der Farbfeldmalerei Mark Rothko in den 1950er Jahre übereinandergeschichtet sind. Dieser Transzendentalismus, der in „Weite“ und „Klarheit“ und überraschenden Nebeneinanderstellungen von Nah und Fern deutlich wird, erweist sich auch bei Susanne Maurer. Ihre Vorliebe für Bilder von lichterfüllten, unbegrenzten Räumen, die eigentlich schon abstrakt, aber doch noch als Landschaft (in der Trennung von Himmel und Erde) zu erkennen sind, könnte man als genau so pantheistisch wie die Improvisationen Kandinskys bezeichnen: Das Göttliche wird im Aufbau und in der Struktur des Universums gesehen, es existiert in allen Dingen und beseelt alle Dinge der Welt.

Das kennzeichnet ihre Arbeiten: Ein Sich-zu-eigen-Machen der romantischen Extreme von Nah und Fern, der Nahaufnahme des Details und der von fern gesehenen „kosmischen“ Landschaft. An einem Ende der Skala die Berge, die Blumen-Wiesen und Wälder, die flachen, spiegelnden Seen in einem Mosaik von mal dünn, mal kräftig aufgetragener Farbe, am anderen Ende – und das betrifft vor allem Arbeiten kleineren Formats – ein Schwarm kristalliner Formen. Der Betrachter vermeint auf eine Erdformation, in tiefes Wasser, in Nebel oder eine Wolkenbank zu schauen, die von innen her erleuchtet ist. Mitunter dominiert der Himmel in lichtvollem Blau das ganze Bild und nur ein schmaler Streifen am untersten Rand deutet auf eine Landschaft hin („2024 März #1“, 2024).

Die Malerin lässt ihre Landschaften in plötzlich aufglänzenden Farbschauern von Rosa, Krapprot, Flieder, Chromgelb, Chromgrün und hellem, sonnengesprenkeltem Grün zergehen. Der Pinselstrich ist leicht und dicht verwoben, vorwiegend malt sie mit fluoreszierenden Acrylfarben. So erscheint die Materie auf diesen Bildern halbgeformt und erweckt den Eindruck, als wolle sie sich jeden Augenblick in dem Licht auflösen, aus dem sie gemacht ist.

Der rhythmische Wechsel im Öffnen und Schließen der Bildoberfläche ist kennzeichnend für ihre Malerei. Im Gegensatz zu den Surrealisten geht es ihr nie darum, den Automatismus als Vehikel zu nutzen, um unbewusste Schichten des inneren Seins freizulegen und in (Traum-)Bildern umzusetzen. Ihr geht es nicht um verborgene Inhalte, sondern darum, eine freie Form des Ausdrucks zu finden, anhand der sie sich von bisherigen Stilen lösen könnte.

Könnte man vielleicht so sagen: Die Schöpfungsgeschichte teilt die Welt in Licht und Finsternis und lässt die Welt damit erst entstehen – und so erschafft die Linie der Künstlerin auch eine Komposition auf der leeren Fläche und aus dem Nichts entsteht ein Bild. Eben diese Linie prägt die Arbeiten von Susanne Maurer. Die Serie als Arbeitsprinzip (sie gibt ihren Arbeiten ja keine Titel, sondern datiert sie und bezeichnet numerisch ihre Folgen) bedeutet für sie eine Abkehr vom Gegenstand und zugleich eine Hinwendung zum jeweiligen Bildgehalt, der in Form und Farbe seine spezifische Ausdrucksform findet. Ihre Arbeiten verweisen auf eine Farbigkeit, die sich vollkommen freizumachen scheint von der Bürde der Repräsentation. Die Farbe kommt zu sich selbst. Sie steht allein für sich. „Für mich sind meine Bilder Farbe auf Leinwand“, sagt Susanne Maurer.

Schon Kandinsky hatte der Farbe die Möglichkeit zugeschrieben, dass diese losgelöst vom Materiellen und – so Kandinsky – „richtig angewendet, vor- und zurücktreten und vor- und zurückstreben und so das Bild zu einem in der Luft schwebenden Wesen machen könne, was der malerischen Ausdehnung des Raums gleichbedeutend“ sei. Und Rothko sagte über seine Malerei: „Der Grund, warum ich große Bilder male, ist, weil ich damit sehr menschlich und intim sein möchte. Ein kleines Bild zu malen, sich selbst außerhalb der Erfahrung zu platzieren, ähnlich, wie wenn man auf eine Erfahrung von einem Stereopticon oder einer Lupe schauen würde (ein Stereopticon, oder auch „magische Laterne“, laterna magica, har zwei Linsen, normalerweise übereinander, und wurde hauptsächlich im 19. Jahrhundert zum Projizieren von farbigen Bildern verwendet – K.H.). Wenn du jedoch die größeren Bilder malst, bist du mitten drin. Da ist nichts, was du von außen kontrollierst.“ Die Farbe des Bildes soll den Betrachter umfangen, die Erfahrung des Bildes eine umfassende sein.

Könnte man die Bilder von Susanne Maurer nicht wirklich als das letzte Schweigen der Romantik bezeichnen? Der Betrachter soll den Bildern so begegnen, wie Caspar David Friedrichs gemalte, dem Meer zugewandte Rückenfiguren der Natur begegnen: Die Kunst soll in universaler Verinnerlichung an die Stelle der Welt treten.

Susanne Maurer – Nirgendwo, Galerie Friedmann-Hahn, Wielandstr. 14, 10629 Berlin;, bis 30. März.