Der Schriftsteller Arthur Conan Doyle, Schöpfer des berühmten Sherlock Holmes, war auch ein Hüter der Wahrheit und Gerechtigkeit. Er klagte mehrfach und vehement das Justiz- und Polizeiunrecht im Vereinigten Königreich der damaligen Zeit an und setzte sich für vorurteilsfreie Untersuchungen ein.
So im Fall George Edalji (1876-1953), der in Birmingham mit gutem Erfolg englisches Recht studiert hatte und dann dort als beratender Rechtsanwalt (Solicitor) arbeitete. Er wohnte aus Kostengründen noch bei den Eltern im Pfarrhaus Great Wyrley, und so pendelte er mit dem Zug zwischen Wohn- und Arbeitsort.
Sein Vater stammte aus Indien, der zum Christentum bekehrt, in England Theologie studierte und eben diese Pfarrstelle in Great Wyrley in der Grafschaft Staffordshire (Mittelengland) bekam. Die Einheimischen wollten das aber nicht hinnehmen, und so kam es zu Anfeindungen, Schmierereien am Pfarrhaus und widerlichen Scherzen. Die Familie erhielt in großer Zahl anonyme Drohbriefe, in denen die Eltern und dann George Edalji angegriffen wurden. Die Polizei tat nichts, um die Urheber zu ermitteln, sondern verdächtigte später den heranwachsenden George Edalji, die Briefe selbst verfasst zu haben. Captain Anson, der rassistische Polizeichef von Staffordshire, meinte gar, dass „Hindus“ hier nichts zu suchen hätten. Die Familie Edalji sei halt selbst schuld an ihrer Situation.
Richtig kriminell wurde es aber im Jahr 1903. In Great Wyrley und Umgebung wurden in rabenschwarzen Nächten einige Kühe, Schafe und Pferde mit einer scharfen Waffe verstümmelt, so dass sie verbluteten oder getötet werden mussten. Wieder tauchten anonyme Briefe auf, die George Edalji als Täter bezeichneten. Er wurde schließlich festgenommen und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt – trotz fragwürdiger Beweise und eines falschen Handschriftengutachtens, das ihn als Urheber der anonymen Briefe ausgab. Nach seiner Festnahme gingen die Tierverstümmelungen weiter; auch Drohbriefe erreichten weiterhin sein Elternhaus.
Und George Edalji hatte schlechte Verteidiger. Noch vor dem Prozess wollte er, dass ein augenärztliches Gutachten über seine Sehfähigkeit eingebracht wird, aber seine Verteidigung überredete ihn, wegen der hohen Kosten darauf zu verzichten. Ihr Argument war, dass die Beweislage ohnehin unzureichend war; deshalb würde es nicht zu einer Verurteilung kommen …
Edalji wurde nach drei Jahren Haft entlassen. Eine Begründung dafür wurde ihm nicht gegeben, so dass er als vorbestraft galt. Das kam einem Berufsverbot gleich, denn als Jurist durfte er fortan nicht mehr arbeiten. 1906 schrieb er in seiner Verzweiflung einen Brief an den berühmten und 1902 als Knight Bachelor geadelten Doyle, in dem Edalji bat, der Wahrheit in seinem Fall zum Sieg zu verhelfen.
Arthur Conan Doyle, der viele Jahre als Augenarzt praktiziert hatte, traf Edalji erstmalig im Januar 1907 in London und ging natürlich medizinisch an den Fall heran. Konnte das vermeintliche Justizopfer überhaupt in finsterer Nacht sehen? Doyle rekonstruierte die möglichen Taten nicht nur gedanklich, sondern ebenso am Ort des Geschehens, schritt die Wege ab, die Edalji bei nächtlicher Dunkelheit hätte nehmen müssen, um die Verbrechen zu begehen. Nur Hindernisse: Abhänge, Böschungen, Schienengleise, steile Treppen, unwegsames Gelände – Doyle wurde klar, dass Edalji der Täter gar nicht sein konnte, und startete eine weltweit beachtete Kampagne. Seine Zeitungsartikel wurden im Daily Telegraph und später auch in der New York Times veröffentlicht.
Die medizinische Diagnose von Doyle war jedenfalls von Anfang an eindeutig. Edalji litt an einer Kurzsichtigkeit von acht Dioptrien und konnte sich, selbst mit Brille, gar nicht in Dunkelheit draußen orientieren, um Tieren die Bäuche aufzuschlitzen. Doyle schrieb: „Dieser Zustand war derartig hoffnungslos schlecht, dass keine Brille dem im Freien Abhilfe schaffen konnte und er seinen Augen ein leeres, herausstehendes Aussehen gab, das ihn im Verbund mit der dunklen Haut in den Augen eines englischen Dorfes als einen merkwürdigen Menschen erscheinen lassen konnte, und deshalb war es leicht, ihn mit irgendwelchen merkwürdigen Ereignissen in Zusammenhang zu bringen. In diesem körperlichen Mangel lagen sowohl die Gewissheit seiner Unschuld wie der Grund, warum er zum Sündenbock geworden war.“
Der starke Druck der Presse und das wache Auge der Öffentlichkeit sind dann Gründe, dass Innenminister Herbert Gladstone 1907 eine Untersuchungskommission einsetzte, die relativ schnell arbeitete und schon im Frühjahr 1907 ihren Abschlussbericht veröffentlichte. Edalji wird vollständig freigesprochen, an den Tierverstümmelungen beteiligt gewesen zu sein, aber die bisherigen Verfahren werden nicht kritisch aufgearbeitet. Ja, es hatte ein paar Verfahrensfehler und Missdeutungen von Spuren und Indizien gegeben, aber Edalji, und daran hielt man fest, hatte die anonymen Briefe eben selbst geschrieben, weshalb ihm auch keine Haftentschädigung zustand. Und man tat alles, die örtliche Polizei unter Captain George Anson reinzuwaschen.
Arthur Conan Doyle ließ nicht locker und machte unbeirrt weiter. Seine Berichte wurden aber von offizieller Seite stets zurückgewiesen, weshalb er seine Nachforschungen jetzt öffentlich machte. Auf diesem Wege konnte der gute Ruf von George Edalji wieder hergestellt werden, der dann nach London ging und jahrzehntelang erfolgreich als Anwalt arbeitete.
Noch im Jahr 1907 war der Court of Criminal Appeal for England and Wales als erstes britisches Berufungsgericht gegründet worden – zweifellos auch dem Engagement von Sir Arthur Conan Doyle geschuldet.
Es ist ein Verdienst des Journalisten und Autors Michael Klein, dass er die Arbeiten Doyles zu wahren Verbrechen übersetzt und dem deutschsprachigen Publikum mit zahlreichen Kommentaren näher brachte. Die Bücher „Der Fall Oscar Slater“ und „Die Blutnacht von Manor Place. Wahre Verbrechen“, im Morio Verlag 2016 und 2020 in Heidelberg erschienen, sind ein Muss für jeden Doyle-Fan, weil sie eine hierzulande kaum bekannte Seite des Arztes und Schriftstellers aufzeigen.
Michael Klein hatte herausgefunden, dass Mitte März 2015 in einem englischen Auktionshaus eine Mappe mit dreißig bis dahin völlig unbekannten Briefen Arthur Conan Doyles, die allermeisten davon an Captain George Anson gerichtet, sowie mit persönlichen Aufzeichnungen von Anson zum Fall Edalji versteigert wurde. Letztere zeigen, dass Anson jegliche Ermittlungen jenseits von Edalji blockierte und Doyles hartnäckige Forderung nach Gerechtigkeit als „unliebsame, lästige Einmischung in die Polizeiarbeit ansah. Den Höhepunkt bildet ein als ‚Vertraulich‘ gekennzeichnetes Dossier Ansons, in dem er zugibt, Beweismittel gefälscht zu haben, um Doyle irrezuführen und lächerlich zu machen. Die späte Pointe besteht darin, dass hier genau das bestätigt wird, was Doyle der Polizei damals vorwarf: eine unbeirrbare Voreingenommenheit und aus derselben heraus eine Manipulation des Beweismaterials.“
Schlagwörter: Arthur Conan Doyle, Frank-Rainer Schurich, George Edalji, Justizopfer, Polizeiarbeit