27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Brecht und Modrow

von Jutta Grieser

Den Tag, an dem man auf die Welt kommt oder diese verlässt, sucht man sich in der Regel nicht selber aus. Brecht wurde am 10. Februar 1898 geboren, Hans Modrow starb am 10. Februar 2023. Der Dichter und der Staatsmann liegen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlins Mitte. Und obgleich sie sich zu Lebzeiten vermutlich nie begegneten, verband sie doch vieles. Das Datum fügte es, dass sich just am 10. Februar dieses Jahres auf dem Gottesacker an der Chausseestraße, auf dem vermutlich inzwischen mehr Atheisten als Christen ruhen, zwei größere Gruppen begegneten. Die eine Gemeinde versammelte sich in der Friedhofskapelle, um an Modrow zu erinnern. Die andere stand zur selben Stunde am Grab von Brecht, um dessen 126. Geburtstag feierlich zu begehen. Getrennt.

Dabei verband Brecht und Modrow beispielsweise der Pazifismus, der in der Hochzeit des Kalten Krieges in beiden politischen Lagern nicht besonders gelitten war. Brechts Kriegsfibel, eine Sammlung Propagandabilder, die er mit pointierten Versen kommentiert hatte, lag in der DDR einige Jahre auf Eis, ehe sie 1955 erstmals erscheinen durfte.* Brecht hatte im dänischen Exil in den dreißiger Jahren damit begonnen, den Krieg und das Militär verherrlichende Bilder aus Illustrierten und Zeitungen zu schnippeln. Dabei war ihm Ruth Berlau behilflich. So entstand ein Kompendium, das globale Kriege, ihre Entstehung, Begleiterscheinungen und Folgen einer dialektischen Kritik unterzog. Und diese – das macht ja einen Klassiker zum Klassiker – war von ewiger Gültigkeit. Manche Kommentare, dass zeigte das Programm in der lichtdurchfluteten Kapelle, wirkten bis in die Worte hinein, als seien sie erst gestern geschrieben worden. „Seht ihn hier reden von der Zeitenwende. / ’s ist Sozialismus, was er euch verspricht. / Doch hinter ihm, seht Werke eurer Hände: / Große Kanonen, stumm auf euch gericht’“, heißt es unter einem Foto, auf dem Hitler am 10. Dezember 1940 bei einer Rede vor waffenproduzierenden Arbeitern in einem Krupp-Werk abgelichtet ist. Zeitenwende? „Kanzler Olaf Scholz hat“, so lesen wir auf der Homepage der Bundeswehr, „den Begriff der ‚Zeitenwende’ geprägt. Bundeswehr und Gesellschaft sollen kriegstüchtig gemacht werden.“

In der Friedhofskapelle auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof präsentierten Gina  und Frauke Pietsch  sowie Sabine Kebir Anti-Kriegslieder und Anti-Kriegsgedichte von Brecht. Sie taten dies unter dem Porträt von Modrow und im Angesicht von mehreren voluminösen Gefäßen, gefüllt mit bunten Tulpen, Modrows Lieblingsblumen. Die Frühlingsblüher trugen im Anschluss Freunde und Wegfährten zum Grabe des Geehrten. Aber auch Brechts Ruhestätte bekam ihren Teil.

Wie die Teppichweber von Kujan-Bulak, die Lenin ehrten, indem sie sich selber etwas Gutes taten verbanden die beiden Brecht-Interpretinnen und die Kultur- und Politikwissenschaftlerin auf kundige und gekonnte Weise Brechts Kriegsfibel-Botschaft mit der kriegsschwangeren Gegenwart. Das hätte Modrow gewiss sehr gefallen. Er war mit 17 in Pommern in Hitlers letztes Aufgebot gepresst worden, und hatte dafür – ohne je einen Schuss abgegeben zu haben – vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zubringen müssen. Dort, in der Antifaschule, hatte er sein Damaskuserlebnis. Bis zum Ende seiner Tage folgte er dem Schwur der Buchenwaldhäftlinge, der in der DDR Staatsdoktrin war: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!

Unter jenen, die gekommen waren, um sich an den vorletzten Premierminister der DDR zu erinnern, waren Peter Brandt, Sohn des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, die Schriftstellerin Daniela Dahn, die ehemalige DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft, und der 98-jährige Rechtsphilosoph Herrmann Klenner, der – einst als „rückfälliger Revisionist“ geschmäht – in den achtziger Jahren die DDR-Delegation bei der UN-Menschenrechtskommission in Genf leitete.

So zog denn nach anderthalb Stunden Erleuchtung in der Kapelle – was auch wörtlich zu nehmen war: das Lichtkonzept des Amerikaners James Turell ist wahrlich einzigartig – das halbe Hundert hinaus, vorbei an den Gräbern der vielen Prominenten. Der Himmel, sonst nur trübe und grau, war plötzlich blau, der Regen machte Pause. Die Wintersonne warf lange Schatten, und da und dort reckten bereits Krokusse und Schneeglöckchen ihre Köpfe aus der geweihten Erde. Es sei wie damals gewesen, als Hans Modrow für die Besteigung des Kilimandscharo zu trainieren begann, erzählte einer seiner medizinischen Freunde auf dem langen Gang vorbei an den Erinnerungsmalen deutscher Kultur-, Politik- und Geistesgeschichte. Wann soll das gewesen sein? 2005. – Da war er doch bereits 87 Jahre alt? Und genau das war unser Problem, sagte der Mann. Hans sei kerngesund und fit gewesen, aber sechstausend Meter hätten ihn vielleicht doch überfordert. Das Risiko war zu hoch, weshalb der Kardiologe irgendein Herzproblem erfand, damit Modrow, wenngleich schweren Herzens, von seiner Absicht Abstand nehme. Was er tat. Ersatzweise bestieg er in Peru den Machu Picchu. Zweieinhalbtausend Meter waren seinem Alter angemessen, sagte der Freund lächelnd und legte seine Tulpen in der fünften Reihe an Grab Nummer 5 im Dorotheengarten nieder.

 

* – Bertolt Brecht: Kriegsfibel (herausgegeben von Barbara Brecht-Schall, mit Nachworten von Jan Knopf und Günter Kunert), Eulenspiegel Verlag 2008 (6., korregierte Ausgabe), 208 Seiten, 24,90 Euro.