27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Das Huhn auf dem Rücken“ – Komödie am Kurfürstendamm, Spielstätte Ernst-Reuter-Saal im Rathaus Reinickendorf / Zum ersten Todestag von Jürgen Flimm. Seine Memoiren: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“ 

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Komödie in Reinickendorf: Mord oder und Totschlag? 

Margret Kobald heult: Ihr 50. Geburtstag, und ihr Gemahl ist die Treppe abwärts gestürzt. Es hat geknackt. Das Genick. Also tot. Verzweifelt stürzt sie zum Nachbarn: Was tun?

Viel, sehr viel tut sich nun zwischen der Hausfrau (arg vernachlässigt) und dem Musiker Sebastian Bonsch (arg unbefriedigt, einsam, geschieden). War es Unfall, Totschlag, Mord? Was zu klären wäre („Bloß nicht die Polizei rufen!“). Das wiederum führt zum aberwitzig komischen, grotesken Verwirrspiel bis zum Rand des Wahnsinns. Bei beiden!

Und das ist das raffiniert Intelligente, immer wieder spektakulär Überraschende dieser furiosen, freilich tragisch grundierten Komödie „Das Huhn auf dem Rücken“ von Fred Apke. Tragen doch alle beide ein schweres Stück Daseinsunglück mit sich, das im erregten Hickhack verdrängter Wahrheiten aus ihnen herausbricht. Die Leiche auf der Treppe als Anlass, vertane Lebensentwürfe im rhetorischen Großeinsatz sich gegenseitig an die Köpfe zu knallen.

Das wird von den Großkomödianten Janina Hartwig und Sebastian Goder unter der fantasievollen, dabei frappierend präzise getimten Regie von Christian H. Voss zu tollem Mord-und-Totschlag-Theater. Da fallen und steigen Temperaturen, wechseln Distanz und Nähe, blitzen Intimitäten, schäumt Abscheu, kochen Wut und Selbsthass – gleich einer Ehe-Hölle. Deren Flammen am Ende wie von Ferne dennoch einen Hauch Freundschaft, ja gar Glückseligkeit aufschimmern lassen. Und da hinein kippt Schreckliches. Bizarre Pointe! Und gleich hinterher kracht noch eine! – Doch mehr wird nicht verraten…

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Flimm: Machtbewusster Vollbluttheaterfritze 

„Das schönste Theater ist: Ein volles Theater!“ – Flottes Motto, das Jürgen Flimm, frisch installierter Direktor des Kölner Schauspiels, anno 1979 mit Mut und Karacho in die Stadt schleuderte. Und sofort begann das intellektuelle Stirnrunzeln: Volles Haus, doch geistige Leere …?

Dabei war der Neu-Intendant seit seinem Sensationserfolg vor fast einem Jahrzehnt mit Fassbinders „Bremer Freiheit“ am Hamburger Thalia längst eine vielgefragte Berühmtheit als geistvoller Regisseur. Die Folge damals: Ein „dicker Strauß“ von Angeboten für verführerische Intendanzen an ersten Häusern (und für Regie sowieso). Doch zunächst wollte er die „Last der Intendanterei“ lassen, sich lieber frei inszenierend tummeln. Doch dann kam der Ruf aus Köln…

Flimm, in Gießen geboren (1941), wuchs auf im „heiligen Köln“; hatte dort schon als Knabe unvergessliche, lebenslang lebendig bleibende Kunsterlebnisse. Etwa mit Johann Sebastian Bach in der Aula der Albertus-Magnus-Universität (das Gürzenich war zerbombt). Und so überschrieb er denn seine Memoiren mit einem Zitat aus der den Glauben und die höheren Mächte preisenden Bach-Kantate Nr. 147: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“.

Was für ein Bekenntnis zur Kunst der Altvorderen! Zur Poesie! Zur Dramatik! Und zugleich das passende Motto für all seine Theaterarbeit.

„Im Theater passiert alles zum ersten Mal.“ Alte Weisheit und früh begriffen bei Flimms Assistenzen. Das war die Lehrzeit jenseits der Uni in Theater-München. Beim „Textwüterich Fritz Kortner“; beim „väterlichen Paul Verhoeven, der mit Laune, Lachen, Komik etwas Neues in die Regieluft brachte“. Oder beim „Wiener Unterhaltungskünstler Otto Schenk“. „Da lernte ich bösartige Beobachtung mit mildem Sarkasmus zu ummanteln. Sein Inszenieren aus dem Herzen – für mich Lehrstunden der Regiekunst. Welch gute, alte hohe Schule!“

Im Kontrast dazu die Herumtreiberei des 68er Jungspunds quasi als Freak und Groupie im seinerzeit provokanten Avantgarde-Milieu um Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann oder den Fluxus-Leuten um Beuys (und im Kino: die Nouvelle Vague).

In Köln, als regieführender Intendant, fügte er all das mit seinem Können und Sinnen zum bejubelten Stadttheater-Gesamtkunstwerk: Er führte Pina Bausch, Luc Bondy, Jürgen Gosch, George Tabori oder Robert Wilson zu spektakulärem Ruhm, holte lokales Volkstheater (Millowitsch) sowie Popkultur (BAP) ins Haus, machte sich in der ganzen Stadt breit mit Nebenspielstätten (damals noch wenig üblich) und rief obendrein das Gastspiel-Festival „Theater der Welt“ ins Leben.

Was für ein lebenspraller, zugleich avancierter Betrieb: Kölsch und Starkbier, Klassisches, Anti-Klassisches, Rummel, Provokation und heiliger Ernst nebeneinander. Für Flimm, der sich selbst als „Vollbluttheaterfritze mit Hang zum Zirkusdirektor“ sah, war es das „tolle rheinische Theater-Abenteuer“. Das verinnerlichte er, behielt es bei als Methode und Marke.

Denn Verkopftes lag ihm überhaupt nicht, schon als rockiger Lederjacken-Schlacks nicht. Er war von zwar nachsichtiger, aber illusionsloser Diesseitigkeit. Hatte einen ausgeprägt unbestechlichem Sinn für die prosaische Wirklichkeit einer jeden Bühnenfigur. Und konzentrierte sich aufs genaue Erzählen von Geschichten – unter strenger Beachtung der „Basisfragen“: „In welche historische Periode steigen wir ein; wie weit entfernen wir uns von der Vorlage; wieviel Kommentar verträgt sie?“

Logisch, dass da über allem – was gegenwärtig gern vernachlässigt wird (Flimms Seitenhieb aufs Heute) –, der Schauspieler steht. „Er ist das Medium des Theaters“, so das Credo. Und entsprechend liebte er seine Spieler und Sänger. Mit Herz und Mund und Tat.

Zu dieser Liebe gehört ganz praktisch bei der Arbeit: Das Zulassen eines, wie er es nennt, „Pingpong“ zwischen Darstellern und Regie. – Und: „Zwischen Schauspieler und Publikum darf sich nichts dazwischenschieben; vor allem nicht der Regisseur.“ Ein erstaunlicher Grundsatz, der für Diskussionen sorgt. Immerhin: Seine guten Grundsätze machten ihn – bewundert und beneidet – zum „gewieften Wirkungsmechaniker“.

Dabei stürzte er keine Throne. Sondern nahm sie sich und hielt so machtbewusst (und launenhaft) wie generös und lustvoll Hof. Nach Köln begann 1985 in Hamburg die zweite legendäre Intendanz am Thalia. Dann die Chefstellen Bühnenverein, Salzburger Festspiele, Ruhrtriennale. Daneben internationaler Opernregie-Reisekader und schließlich 2010 die Spitzenposition an der Berliner Staatsoper mit Herzensfreund Daniel Barenboim. – Eine kräftezehrende Herausforderung: Erst Einweihung des renovierten Schillertheaters als Interim für die jahrelange Grundsanierung des historischen Hauses Lindenoper, dann der Nervenkrieg um dessen Wiedereröffnung, die beständig verschoben wurde.

Ja, er war einer der letzten großen Meister aller Klassen, der da just vor einem Jahr im Januar 2023 starb. Ein Theaterglückskind. Ein schillernder Zampano mit der für die Branche eher seltenen Tugend: Kollegen unterschiedlichsten Temperaments zu locken, zu binden, groß werden zu lassen. Und er war ein Mann der Treue, ein Genie der Freundschaftspflege (sowie geschäftigen Netzwerkens) mit Zelebritäten aller Arten in Kunst, Wissenschaft, Politik. Mit Stars und Sternchen in aller Welt oder fleißigen Handwerkern von der Hinterbühne.

Jürgen Flimms letzter, noch einmal überrumpelnd starker Coup: Das gewitzt und pointiert und beglückend poetisch geschriebene Lebensbuch (leider fehlt ein Register). Gefüllt mit Theater-, Kunst- und Daseinsweisheiten. Und mit Anekdoten, die signifikant ganze Szenen deutscher Theatergeschichte aufreißen.

Jürgen Flimm: Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 350 Seiten, 26 Euro.