27. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2024

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Im Menschen muss alles herrlich sein“ – Maxim-Gorki-Theater / „Fantomas“ – Volksbühne

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Gorki: Mütter und Töchter im Clinch

 

Breschnew-Sowjetunion, Perestroika-Sowjetunion, Oligarchen-Russland, Mauerfall, Deutschland als Berliner Republik… – Von solch weltenstürzenden Umbrüchen und von Menschen, die das Schicksal in derart dramatische Zeitläufe warf, handelt Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“.

Die Autorin kam als Zehnjährige 1985 mit ihrer Familie aus Wolgograd nach Deutschland; jüdische, so genannte Kontingentflüchtlinge. Inzwischen avancierte sie zur herausragenden Größe unseres Literaturbetriebs, geehrt mit vielen Preisen. Das Gorki engagierte sie klugerweise als Hausautorin. Darüber hinaus versteht sich Sasha Marianna als LGBT-Aktivistin; die beiden Vornamen sind prononciertes Zeichen ihrer non binären Identität.

Zurück zum Buch, das 2021 erschien, 2022 mit dem Hermann-Hesse-Literaturpreis gewürdigt wurde und mit außerordentlicher Sprachkraft eben davon erzählt, wie Menschen in besagt wechselvollen, auch lebensbedrohlichen Zeitläuften zurechtkamen, wie sie von ihnen geprägt wurden – und werden. Ein weitverzweigtes, Epochen und Generationen umspannendes Geschichts- und Geschichtenbuch. Und eine Familiensaga: Packend, lehrreich, herzbewegend.

Mithin eine großartige Vorlage fürs Theater. Regisseur Sebastian Nübling und Dramaturgin Valerie Göhring haben eine geschickt komprimierte Fassung erarbeitet. Mit der Auswahl von nur vier Figuren in jeweils prägnanten dramatischen Szenen. Es geht um die schwierige Freundschaft zweier nach Deutschland übersiedelter Mütter, Edita (Yanina Ceron) und Lena (Cigdem Teke), sowie um die tiefgreifenden Konflikte mit ihren Töchtern Nina (Lea Draeger) und Tatjana (Anastasia Gubareva), geboren noch in der UdSSR, aufgewachsen in Jena.

Im Grunde ist es ein Clinch zwischen Müttern und Töchtern; zugleich aber auch innerhalb der Generationen. Und darüber hinaus zwischen Ost und West. – Diesbezüglich gab die Autorin kürzlich in einem Gespräch zu Protokoll: „Ich denke, dass der so genannte Osten viel aus dem Kollektiv und aus der Gruppe heraus denkt; im Guten – Gemeinschaftssinn und Familienbande sind stärker – wie im Schlechten – die anderen entscheiden mit, was für einen richtig sein soll. Im schlimmsten Fall übernimmt das Denken ein totalitärer Staat.“

Die verwinkelten Gräben zwischen allen und allem sind tief; die Versuche, sich nahe zu kommen, sich zu verstehen, meist glücklos. Enttäuschungen dominieren, Wut, Wehmut, Schmerzen. Zärtlichkeit ist selten, doch gelacht wird auch. Und verzweifelt gesungen. Eben des Lebens Fülle.

Nübling inszeniert das hinreißend in neunzig Minuten. Die vier hinsichtlich Temperament und Charakter sehr unterschiedlichen Figuren faszinieren allein schon durch die Aura der Schauspielerinnen. Und bannen das Publikum durch die Intensität des Erzählens und Kommentierens oder auch: Schweigens. Alles auf völlig leerer Bühne. Nur das wiederholte Auf und Nieder des Eisernen Vorhangs (genialer Einfall) gliedert; markiert Gegensätze, Trennendes oder hartes Aufeinanderprallen der Aggressionen und – natürlich – die ungestillten Sehnsüchte nach Miteinander, nach glücklichem Beieinander.

So tauchen wir ein ins gegenwärtige wie vergangene Leben von Edita und Lena, Nina und Tatjana; in ihr Denken und Fühlen, ins komplizierte Geflecht ihrer Beziehungen zueinander. – „Ist es möglich, mit der eigenen Mutter nicht in der Vergangenheit zu reden oder in der Zukunft; ihr in die Augen zu schauen nur im Jetzt; sich nicht mehr vorwerfen, was war, oder beklagen, was niemals sein wird?“ – Das sind so Fragen…

Ja, wir wären gern noch eine Weile geblieben bei dem aufregenden weiblichen Quartett. Im Salzmann-Buch steckt doch Überfülle! Warum also nicht noch einige der bannenden Szenen mehr. Etwa darüber, wie das ablief mit der Übersiedlung in den Westen; wie die Ankunft war in Deutschland, das Heimischwerden oder Fremdbleiben.

Dennoch: Ein tief berührender, zuweilen auch verrückter Theaterabend. Großartig. Er macht Lust, den ganzen Roman zu lesen. Alle 385 Seiten.

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Volksbühne: KGB beim FBI in USA

 

Ein verschusseltes Chaoten-Paar vom KGB taucht unter in den USA (Kathrin Angerer, Benny Claessens). Das Rumpelkammerhaus hat keine Wände, also tackert man ein Sternenbanner als Sichtschutz ans Lattengerüst (Bühne: Leonard Neumann). Ein schlacksiger FBI-Man mit Schlips, Schlabberhosen und Fluppe zwischen den Lippen fuchtelt wie ein Mafia-Onkel unentwegt mit der Kanone (Martin Wuttke). Und zwischendurch geistert ein schwarzer Flattermann herum: Aha, der Großgangster, das berühmte Verwandlungsgenie namens Fantomas.

„Fantomas“ ist denn auch der Titel eines der neuen Werke von René Pollesch, diesem so irritierend schnellen Vielschreiber; nebenbei noch beschäftigt als Intendant.

Nun treibt er schon wieder in einer kaum ergründbaren Text-Collage die Postdramatik auf die Spitze – oder anders: ins Neblige. Also kein Plot, keine Handlung, nur schwer erkennbare Figuren. Und auch kein (zumindest vage) nachvollziehbarer Bezug zur Wirklichkeit. Da wird naiv gefragt, was Terrorismus sei und eine verschusselte Bombe unter Bett und Sofa gesucht. Aber irgendwo tickt da was (etwa der Wecker?), derweil draußen in der Welt jenseits von Bühnenwitzelei die Bomben in echt nur so krachen.

Abgesehen von solch peinlicher Abgehobenheit wollte Pollesch – etwa als charmante Geste oder bloß hilflos epigonal? – wohl mal ganz auf Old-Volksbühne à la Castorf machen. Dazu gehört: Schamlose Überlänge, Video, Schnipsel-Dramaturgie, sichtbarer Einsatz der Souffleuse; Slapstickiaden, Improvisationen und naturalistische Vermüllung einzelner Spielorte, etwa die Wohnhöhle der Sowjet-Spiogenten. Und natürlich: Tolle Solisten!

Das zumindest zieht immer: Stardust! Die fünfte Folgevorstellung nach der Uraufführung war rappelvoll, und kaum einer wagte es, die sich sehr länglich spreizende 265-Minuten-Veranstaltungvorzeitig vorm finalen Gejubel zu verlassen. Brave Freaks. Immerhin wurde das Durchhalten erleichtert durch das artistische Nummernprogramm der ins Leere rasenden Sprechmaschinen – mit höchster Genauigkeit zu beobachten auf herumhängenden Riesenleinwänden. Das Antlitz der betörend schmollenden, ewig girlie-haften Kathrin Angerer, zuckersüß und doch durchtrieben; die dauerhaft entsetzte, gehetzte, verschwitzte, erregt kreischende Hysterika Benny Claessens und natürlich der gelenkige Superschlacks Wuttke mit den sagenhaft strapazierfähigen Stimmbändern, auf denen er mal grummelt, knarzt, säuselt oder gellend trompetet. – Alles eine Sache für Formalisten, Spezies, Liebhaber. Aber sonst?

Ansonsten, das sei unbedingt vermerkt, liefert der Programmzettel am Rand und klein gedruckt eine Empfehlung zur Nachbereitung, zum erkenntnisfördernden Selbststudium. Wir zitieren die Liste: „Fantomas – Eine Sittengeschichte des Erkennungsdienstes von Uwe Nettelbeck; Petersburg, ein Roman von Andrej Belyi in Übersetzungen von Gisela Drohla (1976) und Gabriele Leupld (2001); Return to Sender. Uwe Nettelbecks Zitatenmontagen von Stefan Ripplinger, die Serie The Americans von Joe Weisberg; die Miniserien Irma Vep von Oliver Assayas und Fantomas von Claude Chabrol und Juan Luis Bunuel.“ – Da hat man zu tun; Volkshochschule in der Volksbühne. Oder man lässt, ganz cool, das ganze Theater.