In der Berliner Zeitung waren kürzlich zwei Texte zu lesen, die sich mit den jetzt viele Menschen umtreibenden Vorgängen wie Antisemitismus oder der Palästinafrage befassen. Im ersten Text wird behauptet, dass „Deutschland eine Schuld am Holocaust (hat) und als Folgewirkung am Leid der Palästinenser und in der Leugnung der zweiten Tatsache wiederum auch am Leid der jüdischen Israelis…“ Im zweiten Text heißt es: „Diese Traurigkeit (hervorgerufen durch die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, bei versperrter „Zukunft“ im heutigen Heimatland nach „Haifa“ gehen zu können – St. W.) wird auch genährt durch die grell ins Bewusstsein zurückgeholte Gewissheit, dass der ungelöste Nahostkonflikt immer noch eine Folge des deutschen Faschismus ist“.
Unverblümt bringt es ein Kommentar des Deutschlandfunks auf den Punkt: „Viele haben eine historische Mitschuld an dem Dauerkonflikt (im Nahen Osten – St. W.), die Osmanen, die Briten mit ihren falschen Versprechen, und arabische Länder, von denen nur wenige einen wenn auch kalten Frieden schlossen. Deutschland trägt eine besonders große, vielleicht sogar die größte Mitschuld. Ohne die Verfolgung und Vertreibung der Juden und den Mord an sechs Millionen durch Nazideutschland wäre die Situation im Nahen Osten heute eine andere“.
Diesen Ansichten, dass Deutschland Schuld habe an dem – auch gegenwärtigen – Elend im Nahen Osten, an der prekären, ja lebensbedrohlichen Lage der Menschen und den ungelösten politischen Problemen in ebendiesem Raum, widerspreche ich.
Erst einmal ist festzuhalten, dass Deutschland nicht „eine“, sondern „die“ bis heute fortdauernde Schuld am Holocaust, oder hebräisch der Shoah, hat. Aus dieser Schuld folgt die fortdauernde Verantwortung, die den Worten der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel zugrunde lag, als sie im März 2008 vor der Knesset sagte: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes“.
Schon vor über 2700 Jahren, lange vor der Diaspora, schrieb der jüdische Prophet Jesaja: „Denn der HERR wird sich über Jakob erbarmen und Israel noch einmal erwählen und sie in ihr Land setzen“ (Jesaja 14;1). Den weltweit verstreut lebenden Juden war so immer das Streben und die Hoffnung nah, einen eigenen Staat in Palästina zu errichten. So gab es seit dem Mittelalter auch immer wieder jüdische Einwanderungen – hebräisch alijot (Aufstieg) –, die bis in die Neuzeit anhielten. Es war Theodor Herzl, der 1897 als vom 1. Zionistischen Kongress gewählte Präsident der Zionistischen Weltorganisation diesem Verlangen nach einem eigenen Staat Ausdruck gab: „Der Zionismus strebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte an für diejenigen Juden, die sich an ihren jetzigen Wohnorten nicht assimilieren können oder wollen“. Obwohl seinerzeit ohne greifbaren Erfolg, schuf Herzls Tun wesentliche Voraussetzungen für die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Das war drei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Und sechs Monate nach dem von der UNO verhandelten Teilungsplan vom November 1947. Dieser sah nach der Erfahrung mit der Nazibarbarei eine Teilung des damals noch von Großbritannien verwalteten Mandatsgebiets Palästina vor; mit der Gründung eines jüdischen und eines arabischen Staates.
Eingangs zitierte Aussagen kulminieren in folgender These: Über den Auswanderungsdruck auf die – namentlich deutschen – Juden in den dreißiger Jahren und durch den Holocaust – die Notlage der Überlebenden, die Entschlossenheit der Zionisten und das „Weltgewissen“ nach der Shoah – habe das Naziregime direkt, zumindest indirekt in entscheidendem Maße zur Zuspitzung des Konflikts zwischen Juden und palästinensischen Arabern und zur Staatsgründung Israels beigetragen. Darauf gibt es eine historische und eine politische Antwort.
Zur historischen: Nach Berechnungen von Yehuda Bauer, israelischer Historiker und Holocaustforscher, befanden sich nach dem Zweiten Weltkriegs um die 250.000 Juden in DP camps (DP = Displaced Persons – St. W.); hauptsächlich in Westdeutschland, Österreich und Italien. Die meisten verließen die Lager entweder in Richtung USA oder Palästina (zwei Drittel). Auch andere europäische Juden, die Weltkrieg und Holocaust überlebt hatten, sahen sich genötigt, ihre Heimat zu verlassen; so polnische Juden nach dem Pogrom von Kielce im Juli 1946, bei dem über 40 Juden ermordet und weitere 80 verletzt wurden, nachdem ein Gerücht über die Entführung eines christlichen Jungen verbreitet worden war.
Was diese Einwanderung zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Unabhängigkeit Israels respektive dem Ende des ersten israelisch-arabischen Krieges betrifft, so bestreiten Historiker eine Verbindung zum Holocaust. Der schon erwähnte Bauer schreibt: „The State of Israel is, first and foremost, the creation of the generations that preceded the Holocaust and that created in Palestine a basis for the struggle for independence. Because of that foundation, the survivors could make an impact“ (Der Staat Israel ist in erster Linie die Schöpfung der Generationen, die dem Holocaust vorangingen und die in Palästina die Grundlage für den Kampf um Unabhängigkeit schufen. Aufgrund dieser Grundlage konnten die Überlebenden etwas bewirken). Auch der israelischer Holocaustforscher Dan Michman, dessen Beiträge „zum Kontext von Shoa und der Staatsgründung Israels“ nach Ansicht eines Rezensenten „zum Besten was auf diesen Feldern publiziert wurde“ gehören, sieht das so.
Sicherlich hat der Zustrom von zum Kampf entschlossenen Juden aus den DP-Lagern das Kräfteverhältnis zugunsten der Juden beeinflusst; dass dadurch die Palästinenser Opfer des Holocaust geworden wären, ist kaum schlüssig. In den Auseinandersetzungen zwischen Juden und palästinensischen Arabern und später zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten waren (und sind) beide Seiten Täter und Opfer; dabei ging es nie – weder programmatisch noch faktisch – um die physische Vernichtung der Araber als Gruppe, also um Genozid. Nie haben Juden Araber genauso zu Opfern gemacht wie Nazis Juden. Solche Verdrehungen werden auf deutscher Seite immer wieder in problematischer Weise ins Spiel gebracht; nicht nur von rechtsextremen Gruppierungen, sondern auch in bestimmten antizionistischen Denktraditionen der Linken.
Zur politischen Antwort: Die von Deutschland eingegangene Verantwortung für Israel kann – auch nicht mittelbar – weder in deutsche Schuld „am Leid der Palästinenser“, noch „am Leid der jüdischen Israelis“ umgedeutet werden, wie es im ersten eingangs zitierten Text steht: Rechenschaft für sein Tun oder Unterlassen muss allein der Staat Israel ablegen. Nicht Deutschland, auch wenn es etwas nebulös Israels Sicherheit meint garantieren zu sollen.
Vor ein paar Tagen skandierten vor allem junge Menschen vorm Auswärtigen Amt in Berlin „Free Palestine from german guilt“ (Befreit Palästina von deutscher Schuld). Diese Botschaft sei „an geschichtsklitternder Obszönität nicht zu übertreffen“, so ein Kommentator. Die biodeutsche Gesellschaft möge sich, bitteschön, von ihrer historischen Last befreien – der Verpflichtung, sich zur Geschichte der Shoah zu bekennen. Anleihen am postkolonialistischen Diskurs werden sichtbar, wenn an anderer Stelle davon gesprochen wird, der Holocaust werde „sakralisiert“, sei der „Katechismus der Deutschen“, der eine Aufarbeitung der deutschen kolonialen Vergangenheit verhindere.
„Koloniale Vergangenheit“, „Palästina von der deutschen Schuld befreien“ – erinnert das nicht an die letzte documenta? Auch die damaligen Debatten um deutsche Schuld, Judenfeindlichkeit und „Israelkritik“ waren aufgeheizt. Die Macher der Ausstellung verstanden ihr Vorgehen als Art und Weise, „deutsche Schuld und Geschichte auf den palästinensischen und andere antikoloniale Kämpfe zu projizieren und zu übertragen“.
Da liegt des Pudels Kern – „palästinensische und andere antikoloniale Kämpfe“! Es geht nicht um „deutsche Schuld“, sondern um die (vermeintliche) Unterstützung Deutschlands für die „Kolonialmacht“ Israel. Trifft das zu? Ich denke – nein! Alle Bundesregierungen traten und treten für die Zwei-Staaten-Lösung ein. Vertreter der jetzigen sollten noch stärker darauf dringen, dass Israel vom Selbstverständnis eines „Siedlungsprojekts“ abrückt.
Schlagwörter: Araber, Israel, Judenfeindlichkeit, Staatsräson, Stephan Wohanka, Zionismus, Zwei-Staaten-Lösung