Noch bevor die beiden Jubiläumsjahre 2025 (150. Geburtstag) bzw. 2026 (100. Todestag) mit etlichen Neuerscheinungen und Nachauflagen daherkommen, hat Gunnar Decker eine opulente Biographie des „fernen Magiers“ Rilke vorgelegt. Als Fortschreibung seines erstmals 2004 veröffentlichten Buches „Rilkes Frauen oder die Erfindung der Liebe“ setzt sie bei Leserinnen und Lesern allerdings einiges voraus, ist das Buch doch insgesamt mehr philosophie- als poesieorientiert.
Er fragt darin „nach Wendepunkten und Widersprüchen in Rilkes Leben, nach seiner Auffassung von Religiosität im Verhältnis zur Kunst“, und er versucht zu zeigen, dass „neben dem großen Bogenschlag zwischen Liebe und Tod […] immer auch die Themen Arbeit und Armut – spirituell überhöht wie auch in nackter sozialer Brutalität – bestimmend“ für den Dichter waren. Zugleich will er Rilke aber auch „als modernen Mystiker vorstellen, als einen Beschwörer der Als-ob-Existenz Gottes“.
Decker, so erklärt sich die Wahl des Titels, sieht Rilke als einen weltabgewandten Mönch und „Magier, der weiß, dass die von ihm gewollte fortwährende Vergeistigung ihre Grenze im eigenen Leib findet“. Dieser Magier, „der immer zugleich nach dem Schwierigsten und dem Einfachsten strebte“, blieb in der Ferne, auf Distanz zum Alltäglichen, „weil ihn auch das Gelingen seiner Dichtung nicht retten konnte vor dem Gefühl, für dieses Leben unbegabt zu sein“.
Was hieß „unbegabt“? Rilke war von Jugend an ein Getriebener. Jemand, der ständig auf der Suche „nach verwandelnden Begegnungen mit Menschen und Orten“ war. München, Göttingen, Köln, Wien, Prag, Marienbad, Florenz, Rom, Neapel, Capri – die Liste ließe sich fortsetzen. Rilke reiste nach Belgien, Dänemark, Schweden und immer wieder nach Frankreich. „Paris mit all seiner Anziehungs- und Abstoßungskraft“, so Decker, war „der Mittelpunkt seines Lebens“. Überall traf er auf Menschen, die ihn aufnahmen, ihm verständnisvoll gegenübertraten und zumeist auch finanziell unterstützten. Manchmal blieb er nur ein paar Tage, doch so manches Mal wurden es Wochen oder Monate.
Eine der Gegenden, die ihn neben Paris und Venedig am meisten anzog, war das zwischen Bremen und Bremervörde gelegene Teufelsmoor mit seiner Malerkolonie Worpswede. Eingeladen von dem Maler Heinrich Vogeler, den er in Florenz kennengelernt hatte und der seit ein paar Jahren dort ansässig war, besuchte Rilke Ende 1898 zum ersten Mal die nordöstlich von Bremen gelegene 700-Seelen-Gemeinde Worpswede. Am meisten beindruckte ihn Vogelers Haus. Die Kunst und das Leben in Einklang zu bringen, das Schöpferische mit dem Alltäglichen zu verbinden – mit dem noch heute jährlich Tausende von Besuchern anziehenden Barkenhoff hatte Vogeler das verwirklicht, wonach Rilke strebte.
Im Sommer 1900 kam er erneut nach Worpswede. Er lernte Vogelers Malerkollegen Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Hans am Ende kennen und traf die beiden jungen Künstlerinnen Paula Modersohn und Clara Westhoff. Rilke und die aus einer Bremer Kaufmannsfamilie stammende Westhoff wurden ein Paar und Ende April 1901 getraut (wie schon in „Rilkes Frauen“ gibt Decker das Datum leider auch hier falsch an). Ihren Wohnsitz nahmen sie im nur wenige Kilometer von Worpswede entfernten Westerwede. Doch ihre Ehe sollte nicht halten. Ende August 1902 verließ Rilke seine Frau und die im Jahr zuvor geborene gemeinsame Tochter und machte sich auf den Weg nach Paris, wo er an einem Buch über Rodin arbeiten wollte. Trotz der Trennung blieben Rilke und Westhoff in Kontakt, sie schrieben sich Briefe, unternahmen auch die eine oder andere Reise gemeinsam, ansonsten ging jeder seiner Wege. Am Ende erschwerten bürokratische Hürden und Verwicklungen das endgültige Aus. Die Scheidung wurde bis zu Rilkes Tod im Dezember 1926 nie offiziell vollzogen.
Und das Teufelsmoor? Zwischen 1898 und 1910 hielt sich Rilke insgesamt zehn Mal in dieser Gegend auf. Zählt man all die Tage und Wochen zusammen, die er an verschiedenen Orten dieser einzigartigen Moor- und Heidelandschaft verbracht hat, so lebte er fast zweieinhalb Jahre dort. Bis heute spürt man zwischen den Zeilen seiner Gedichte die Wirkung, die das Teufelsmoor auf Rilkes Schreiben hatte.
Am Ende von Deckers Buch steht der Satz: „Seine Worte verbergen sich dunkel, während sie sich hoch und klar aufschwingen.“ Eine kryptische Schlussbemerkung, die einmal mehr dazu auffordert, Rilke zu lesen – und das nicht erst anlässlich zweier Jubiläen.
Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier – Eine Biographie, Siedler Verlag, München 2023, 608 Seiten, 36,00 Euro.
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