Ihr Autor ist doppelt befangen. Zum einen leitet er seit 2005 KlezPO, das Klezmer-Projekt-Orchester in Göttingen. Wir haben für die beiden Göttinger jüdischen Gemeinden, für das Jüdische Lehrhaus Göttingen und mehrfach für Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und viele andere gespielt, das ist gut so und soll auch so bleiben. Zum anderen habe ich im Juli 2011 zwölf Tage als Gastdozent des Edward Said Conservatory of Music, also der palästinensischen Musikschule, im Westjordanland mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Ich habe das Gefühl des Besetztseins und des Be- und Zersiedeltwerdens kennen gelernt und die Checkpoints von der Rückseite gesehen.
Der 7. Oktober 2023 ist für mich ein Einschnitt nicht einfach in der Geschichte des Nahen Ostens, sondern in der Geschichte der Menschheit. Wie kann es denn bitte sein, dass im 21. Jahrhundert auf einen Schlag rund 1200 Menschen getötet, verstümmelt, geschändet werden, und dazu noch über 200 Personen gewaltsam entführt? Einen solch unglaublich brutalen Terrorakt, ein so furchtbares Verbrechen hat keine Untergrundarmee, keine Terrorgruppe anderswo in der Welt verübt. Es wäre an der Zeit gewesen, dass alle Welt aufschreit: „Ja, seid ihr denn wahnsinnig?!?“
Kommen wir näher an den Ort des Geschehens. Natürlich gibt es zu den unfassbaren Verbrechen der palästinensischen Terrorgruppe Hamas jede Menge Vorgeschichte. Doch die taugt ebensowenig zur Rechtfertigung für die Gräueltaten wie der Islam. Der Islam ist eine menschenfreundliche, lebensbejahende Religion; im Koran kommt etwa der Begriff der Barmherzigkeit öfter vor als im Neuen Testament. Bewusst setzt die militärische Führung der Hamas auch noch die Leben der anderen Palästinenser aufs Spiel und vergeht sich damit am eigenen Volk. Ja, die sind wahnsinnig.
Der Staat Israel besteht auf Grund eines Beschlusses der Vereinten Nationen (allerdings in gewissen Grenzen). Dieser Beschluss hat nicht alle in der Welt erfreut, aber er ist redlich zustande gekommen und damit amtlich. Dass sich ein Staat verteidigen darf – und in diesem Fall auch muss – ist selbstverständlich. Deutschland mit seiner Geschichte ist verpflichtet, das zu unterstützen: aber bitte nicht blind.
Ich habe es mehrfach erlebt, dass ich von radikalen Juden zum Antisemiten gestempelt wurde, weil ich die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik im Westjordanland massiv kritisiert habe. Natürlich darf man israelische Politik, insbesondere auch die korrupte Haltung von Politikern kritisieren; solch ein Antisemitismus-Totschlagsargument nimmt man halt kopfschüttelnd in Kauf. Man muss einen guten Freund auf Fehler aufmerksam machen dürfen.
Nun kommen wir zu Reaktionen in Deutschland. Kulturschaffende und viele Intellektuelle verstehen sich gern als links, oder um es klangvoller zu sagen, als progressiv (möglicherweise ein Erbe der Französischen Revolution). Nach dem 7. Oktober kam massenhaft der Aufschrei wegen der armen Palästinenser. Was ist das denn? Seid ihr denn wahnsinnig? Soll hier die Relation Täter / Opfer ins Gegenteil verkehrt werden?
Richtig, der Terrorakt des Jahrhunderts wurde nicht von den Palästinensern verübt, sondern von einem wahnsinnig gewordenen kleinen Teil. Um dessen Bekämpfung muss es hier gehen, er gefährdet ja auch die friedliebenden Palästinenser. Selbstverständlich ist Verhältnismäßigkeit gefragt. Natürlich muss die palästinensische Zivilbevölkerung geschützt werden, wie auch die israelische Bevölkerung ein Recht auf Frieden hat. Alles andere wäre nur wahnsinnig und menschenfeindlich. Man wird abwarten müssen, wie das israelische Vorgehen im Gaza-Streifen zu bewerten ist. Frieden für Israel wird es letztlich kaum geben ohne Frieden für die Palästinenser. So mancher Zionist wird das schlucken müssen.
Jedenfalls, die progressiven Kulturschaffenden (etc.), selbst ernannt oder nicht, sollten nicht blind nur auf die eine oder andere Seite setzen. Kultur ist für Menschen, nicht einfach für eine Seite von Politik. Man bedenke: Religion ist im Mindestfall der Versuch, dafür zu sorgen, dass sich die Menschen vernünftig benehmen. Wer aus Religion das Recht zur Gewalt ableitet, hat das Prinzip nicht verstanden.
Kultur gehört im Marx’schen Sinn zum Überbau und ist dazu da, den schnöden Kampf ums Materielle für die Menschen angenehm auszustatten. Die Aufgabe von Kulturschaffenden ist es, Grenzen abzubauen, Gemeinsamkeiten zu finden und dem interessierten Publikum zu helfen, Gegensätze als Bereicherung zu empfinden. Alles andere wäre die Rückkehr zum Banausentum, engstirnig und borniert, oder um bei meiner Wortwahl zu bleiben: eben wahnsinnig.
Schlagwörter: Antisemitismus, Hamas, Islam, Israel, Kultur, Terrorakt, Wieland Ulrichs