27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Das „Chemnitzer Kinderheim“ auf Rügen

von Dieter Naumann

Die Räume sind weitgehend leer, nur vereinzelt stehen noch Stühle und Regale in den Zimmern, die Fenster sind zum Teil kaputt, die Holzböden morsch. Das ganze Grundstück ist zugewuchert. Der alte Zaun rostet vor sich hin.

So präsentieren sich auf Fotos, die im Internet kursieren, Haus und Gelände des ehemaligen Chemnitzer Kinderheims in Lohme auf Rügen. Dabei wurde das Haus in Reiseführern einst als „erstes Hotel am Orte“ angepriesen, hervorgehoben wurden die freie Lage und der Garten.

Kurz nach seinem Bau warb das seinerzeitige „Hotel Jenssen“ 1891 im Dunker-Reiseführer mit Pensionspreisen von 0,50 bis 5 Mark, Logis von 1,50 bis zwei Mark, Mittagessen 1,50 Mark, dazu 3 Mark Kurtaxe. Ein kaltes Bad wurde für 20, ein warmes für 75 Pfennige angeboten.

Neun Jahre später – 1900 – wies der Reiseführer von Grieben auf „Jenssens Hotel und Logierhaus“ hin. Für die Bäder würden vor der Saison Steine weggeräumt und „viel Sand eingeschüttet“; hieß es. Kalte Bäder kosteten nun 25 Pfennige (Kinder 10), ein Warmbad in dem „neu und gut eingerichteten Warmbade“ koste 1 Mark, Kinder die Hälfte.

Als der Besitzer von „Grey´s Hotel“ 1904/05 sein Haus als „Hotel ersten Ranges“ und „ältestes und größtes Hotel am Platze“ anpries, sah sich Rudolf Jenssen offenbar auf den Plan gerufen: Seinerseits bewarb er sein Etablissement im Grieben von 1906/07 als „erstes Hotel am Orte“ und im Richter von 1914 als „größtes und erstes Haus“. Ausgewiesen werden für das Hotel damals 38 Zimmer zu 1,50 bis 2,50 Mark, Pension zu 4,50 bis 6 Mark. Neben Frühstück, Diner und Diner à part wird auch Souper (Abendbrot) angeboten. In einem Prospekt lockt Jenssen um 1912/13 mit „besteingerichteten Wohnräumen“ und „guten Betten“, „sorgfältig gepflegten Bieren und Weinen“ sowie „Kleinverkauf aus dem Hause zu Engrospreisen“.

Jahre später wurde aus Jenssens Hotel der „Baltische Hof“ – „vollkommen renoviert und neu ausgestattet“. Die Besitzer Franz Ihde (er war auch Geschäftsführer der hiesigen Badeverwaltung) und Albert Iselt ließen in Griebens Reiseführer von 1922 allerdings vermerken: „Besuch von Juden nicht erwünscht, beliebte Familienpension“.

Im Schuster von 1926/27, wird der Baltische Hof „als Chemnitzer Kinderheim“ aufgeführt. Die Stadt Chemnitz hatte das Haus gekauft und brachte ab 1928 zunächst Kurkinder unter. Im Jahr darauf verwies die Chemnitzer SPD auf einem Wahlplakat unter anderem auf das „Seekinderheim Lohme auf Rügen“ und vermerkte: „Durch die Arbeit der SPD wurden über 26.000 Kinder an die See und ins Gebirge gebracht. Wählt die Liste 1.“ Auf einer im April 1929 verschickten Karte heißt es: „Von unserem Zimmer haben wir eine sehr schöne Aussicht auf die Ostsee. Mir gefällt es hier sehr gut. Schreibt mir nur recht viel Mal. Ich konnte nicht mehr schreiben.“ Auf einer anderen Karte schrieb ein Kind im Oktober 1936:

„Nun schreibe ich euch das letzte mal. Wir kommen den 9.10. (um) früh 6.39 Uhr in Chemnitz an. Liebe Mutti […] komme bitte pünktlich auf den Hauptbahnhof auch Oma holt mich mit ab. Gestern wurde das Erntedankfest bei uns auf der Spielwiese abgehalten da war es kalt wir haben uns aber warm angezogen. Heute ist es bei uns auch noch kalt. Liebe Eltern am Freitag auf dem Bahnhof da gibt’s ein Wiedersehen.“

Während des Zweiten Weltkriegs beherbergte das Heim von 1943 bis 1945 Kinder aus der Aktion Kinderlandverschickung, kurzzeitig auch Schüler der Ulrich-von-Hutten-Schule Berlin. Nach dem Krieg wurden zunächst Flüchtlinge untergebracht, danach war die Anlage bis 1952 Kindererholungsheim der Stadt Chemnitz, bis 1989 schließlich Heim für bis zu 1000 elternlose Kinder.
Ein tragisches Unglück überschattet die Geschichte des Heimes: Im Februar 1956 war Lohme eingeschneit, am Ufer hatte sich eine Eisschicht gebildet und zum Schwanenstein, einem Findling, der unterhalb des Heimes vor der Küste liegt, führte eine Eisbrücke. Drei Jungen, Uwe Wassilowsky (14) und Helmut Petersen (10), beide aus dem Heim, und Manfred Prewitz (13) aus dem Dorf liefen über die „Brücke“ zu dem großen Stein. Während sie dort spielten, schlug das Wetter um und Wind kam auf. Die Eisbrücke zerbrach, so dass der Rückweg zum Strand abgeschnitten war. Andere Kinder am Ufer alarmierten die Heimverantwortlichen und eine verzweifelte Rettungsaktion begann. Jeder Versuch scheiterte jedoch an den Wetterbedingungen: Ein Boot kenterte, Angehörige der Grenzpolizei und in Ranzow stationierte sowjetische Matrosen versuchten vergeblich, den Stein schwimmend zu erreichen, ein Hubschrauber konnte wegen des Sturms nicht abheben, ein in Prora abgefahrener Panzer blieb im Schnee stecken, ein Fischkutter aus Sassnitz vereiste innerhalb kürzester Zeit und musste umkehren, eine von der Seenotstation Lohme mit einer Rakete über den Stein geschossene Leine konnten die völlig vereisten Kinder nicht ergreifen. In der Nacht mussten die Helfer im Scheinwerferlicht erkennen, dass die drei Jungen eng aneinander geklammert am Fels festgefroren waren. Der Sturm hatte dem Stein eine mindestens zwei Meter hohe Eishaube aufgesetzt.

Die drei Jungen wurden am 17. Februar 1956 auf dem Friedhof von Nipmerow, einem Ortsteil von Lohme, beigesetzt. Eine Tafel am Ufer in Höhe des Schwanensteins informiert noch heute über das tragische Ereignis.

1957 schrieb der Kinder- und Jugendbuchautor Egon Schmidt (1927-83), der Anfang der 50er Jahre am Institut für Lehrerbildung im rügenschen Putbus gearbeitet hatte, das Buch „Drei Jungen im Eis“. Es hat das Unglück der Kinder aus Lohme zwar zur Grundlage, doch anders als in der Realität werden zwei der Jungen in Schmidts Erzählung gerettet. Das Buch wurde 1959 vom Ministerium für Kultur mit einem Preis ausgezeichnet und erschien bis 1982 in 13 Auflagen

Die Gebäude des Lohmer Heims wurden bis zur Schließung 2007 von der Arbeiterwohlfahrt weiter als Heim für Kinder aus Problemfamilien betrieben. 2010 hatte die Stadt Chemnitz das Objekt an ein Berliner Unternehmen verkauft. Geplant war der Abriss zugunsten eines Kurparks, berichtete die Ostsee-Zeitung 2017 in ihrer Rügen-Ausgabe. Indes verfiel die Anlage in den eingangs beschriebenen Zustand. Wer der gegenwärtige Besitzer ist und welche Pläne damit verfolgt werden – ist unklar.