Um 1900 wurde die Kunst der Zeit geprägt von einer Bewegung mit ganz eigenem Stil. Im deutschsprachigen Raum nannte man sie „Secessionsstil“ oder „Jugendstil“, in Frankreich „Art Nouveau“, in Großbritannien „Modern Style“. Alle Lebensbereiche sollten von Kunst und Kunsthandwerk durchdrungen werden. Die Künstler arbeiteten daher nicht nur in den schönen Künsten, sondern gestalteten auch Plakate, Möbel, Schmuck, Keramik und Glaswaren, Textilien, Zeitschriften und Bücher, aber auch Gebäude.
Das Berliner Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, gibt anlässlich seines 50jährigen Gründungsjubiläums einen vielseitigen Überblick über den Art Nouveau in Frankreich und Belgien. Aus den eigenen reichen Beständen wie auch aus weiteren deutschen und ausländischen Sammlungen sind rund 100 Werke der bildenden Kunst, Möbel, Schmuck, Metall-, Glas-, Keramik- und Textilarbeiten sowie Plakate zusammengetragen worden, die einen faszinierenden Einblick in die Formensprache des Art Nouveau und dessen Vorliebe für organische Formen und verspielte Linienführungen geben. Inspiriert durch die neuen ostasiatischen Vorbilder fanden die Künstler ihre Motive hauptsächlich in der Natur. Der Mensch, das Tier und die Pflanze werden ornamental verwandelt. Eine Eigenheit des Art Nouveau ist die deutlich enge Verbindung zum literarischen Symbolismus: Die Vorliebe der Schmuckkunst für schwingende Frauenköpfe, Insekten, Fische, Schwäne und Blüten – oft sind die Motive symbolisch überfrachtet – ist evident. Neben diesen Motiven spielen aber auch geometrisch strenge, sachliche Formen eine große Rolle in Architektur, Inneneinrichtung und im Kunstgewerbe.
Weltberühmt wurde Hector Guimard durch die Gestaltung der Pariser Metro-Eingänge, deren fließende Jugendstilformen aus Pflanzen- und Tierformen perfekt in die Strukturen eingewoben sind. Zwei gusseiserne Gitter für die Pariser Metro (um 1900) können gezeigt werden. Sein imponierendes Buffet mit Seerosenblättern und -stängeln (1899) zeichnet sich durch die asymmetrische Gestaltung aus. In langausfahrenden, astartigen Schwüngen wird der Schrank durch freischwebende Konsolen aufgegipfelt; an oberster Stelle hatte die Vase zu stehen, sie schwebte als Schauobjekt im Raum. Durch ihre sinnliche Eleganz reduziert die zarte Seerosen-Pflanze die Massivität des Möbelstücks. So wurden auch an anderen Objekten des Nouveau Art Linien nach natürlichen und pflanzlichen Formen modelliert, insbesondere nach Alpenveilchen, Iris, Orchidee, Distel, Mistel, Stechpalme, nach den stilisierten Linien von Schwan, Pfau, Libelle und Schmetterling. In Architektur, Möbeln und anderen dekorativen Künsten ist die Dekoration vollständig in die Struktur integriert worden.
Die Skulptur um 1900 wählte höchst unkonventionelle Themen: Traum, Paarung, Leben und Tod. George Minnes überschlanke Jünglingsfigur in seiner strengen statisch-tektonischen Gliederung steht als figurale Silhouette im Raum. Für seine Frauendarstellungen mit dem Thema „Das Spiel mit dem Schal“ (um 1900) wurde Agathon Léonard, ein Bildhauer belgischer Abstammung, von der amerikanischen Künstlerin und Schleiertänzerin Loie Fuller inspiriert. Eine Kuriosität: In der Kombination von elektrischem Licht und ornamentalisierenden Linien erhebt die Tischleuchte „Loie Fuller“ (1901) des Bildhauers Raoul Larche in großem Schwung die Stoffmassen über das Haupt der Tänzerin.
Eugène Feuillatre wurde bekannt durch die Schönheit und Qualität seiner Emailarbeiten, mit denen er sowohl Schmuck als auch andere Objekte dekorierte. So kann man die Vase „Die Nacht“ (1900, Silber, emailliert in vergoldeter Fassung), bewundern, in der sich eine zauberhafte nächtliche Landschaft, von einer Fledermaus durchzogen, widerspiegelt. Die verschwommenen, milchigen, perlmuttartigen Töne sind charakteristisch für sein Werk. Reflexion und Transparenz sind sowohl eine Herausforderung als auch eine Inspiration.
Besonderer Beliebtheit – nicht nur in Frankreich – erfreute sich der Amerikaner Charles Lewis Tiffany, der mit der 1880 einsetzenden Entwicklung der „Tiffany Favrile glass“, eines irisierenden mit Metallen vermischten Glases, Welterfolg errang. Doch mit neuen Techniken der Glasbläserkunst experimentierte auch Emile Gallé. Zu seinen typischen Arbeiten zählen Kameen-Gläser: einfarbig geblasene Vasen, die mit mehreren farbigen Glasschichten überfangen und in die verschiedene ornamentale Reliefs eingeschnitten wurden. 1897 erfand er eine hochkomplizierte Technik namens ‚Marqueterie de verre‘, eine Art Einlegearbeit in Glas.
Bezaubernd die poetischen Stimmungen, die die Glasuren auf den Vasen des Art Nouveau hervorrufen. Die Wechselbeziehung zwischen Dekor, Glasur und Gestaltform erlangt hier in der Gefäßkunst einen Höhepunkt. Eine wirkliche Rarität und zugleich ein Beispiel für die „sprechende Glaskunst“ Gallés ist die sogenannte „Dreyfus-Lampe“ (1898-1900), eine gläserne Tischleuchte in Form eines emporwachsenden Palmschößlings mit Überfang und aufgelegten Glasfäden. Mit dem Sinnspruch: „Die Wahrheit wird sich aufhellen wie eine Lampe“ ergreift der Künstler Partei für den jüdischen Hauptman Alfred Dreyfus, der 1894 in Frankreich zu Unrecht wegen Landesverrats verurteilt wurde. Seine Kommode „Das Feld des Blutes“ (1899/1900) nimmt ebenso unerwartet Stellung zu dem vom Osmanischen Reich unter Sultan Abdulhamid II. verübten Massaker an der armenischen Bevölkerung. Denn als Dekor befindet sich auf der Vorderseite ein verwüstetes Tulpenfeld, an den Seitenwänden brennende Dörfer vor einem aufragenden osmanischen Halbmond, während die aufliegende Onyx-Platte die Inschrift „Prunus Armeniaca“ und den Zweig eines Aprikosenbaums, dem Wahrzeichen Armeniens, trägt.
Georges de Feure, der vor allem durch seine Plakate im Jugendstil bekannt ist, war einer der vielseitigsten und originellsten Künstler des Fin de Siècle. Als Autodidakt wechselte er mühelos von der Malerei zum Grafik-, Theater- und Industriedesign. Während der Maler und Illustrator Eugène Grasset allegorisch verklärte Naturgeschöpfe schuf, konzentrierte sich de Feure auf elegante, modische Frauengestalten. Aber beide gaben auch der diabolischen femme fatale ein Gesicht. Dagegen ist das Thema Frauenemanzipation seltener im Art Nouveau anzutreffen.
Henri de Toulouse-Lautrec war trotz seines körperlichen Gebrechens einer der bedeutendsten Maler und Zeichner des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Seit 1891 erschien die lange Reihe seiner berühmt gewordenen Plakate. Sein lithografisches Poster „Divan Japonais“ (1892) mit dem Blick auf das Publikum des gleichnamigen Musikcafés gilt als Inbegriff der Plakatkunst des Jugendstils. Kunstvoll komponierte Toulouse-Lautrec – angeregt von japanischen Holzschnitten – mit raumlosen Farbflächen, Überschneidungen und Asymmetrien.
Henri Rivière war der erste französische Künstler, der polychromatische Holzschnitte nach japanischen Methoden herstellte. Seine Holzgravur-Serien „Das Meer. Wellenstudien“ und „Bretonische Landschaften“ bieten eine gleichermaßen poetische wie synthetische Vision der bretonischen Küsten.
Mit ihrem Serpentinentanz war die erwähnte Loie Fuller ein begehrtes künstlerisches Motiv, ein tanzendes weibliches Ornament, das mal an einen Schmetterling, mal an eine züngelnde Flamme erinnerte – und damit die perfekte Verkörperung des Art Nouveau. Plakate von Jules Chéret und Manuel Orazi thematisieren die speziellen Lichteffekte, durch die die Tänzerin in allen Farben des Regenbogens erstrahlt. Zur Ikone des Art Nouveau wurde die berühmte Schauspielerin Sarah Bernhardt durch die Plakate von Alfons Mucha. Bereits „Gismonda“ (1894), das erste von Mucha geschaffene Plakat, sollte das Plakatdesign revolutionieren. Seine lange Serie besteht größtenteils aus Inkarnationen von Bernhardts Figuren, jede elegant und imposant, verziert mit dem Stil und den Feinheiten seiner meisterhaften Jugendstilhandschrift.
Eugène Grasset, ein Art-Nouveau-Pionier mit Schweizer Wurzeln, einer der innovativsten und talentiertesten kreativsten Köpfe des Art Nouveau, ist heute noch für die Darstellung von eleganten Frauen als Allegorie der Künste bekannt. In seinen Lithografien, Postern und Illustrationen setzte er die Farbe gewagt ein. Charakteristisch für seine Plakatgestaltung sind klare Farbflächen, die von dunklen Umrisslinien eingefasst werden. Es gelang ihm gleichermaßen Farben einander gegenüberzustellen, die sich ergänzen, wie solche, die sich widersprechen.
Ganz im Gegensatz zu den floral-vegetabilen Schmuckstücken ging es Henry van de Velde um dynamisch-schwingende Abstraktionen. Der flämisch-belgische Architekt, Innenausstatter, Grafiker und Designer arbeitete mit der Wirkung von abstrakten Ornamenten und freiem Linienfluss und verbreitete seine Formensprache ab 1901 auch in Deutschland. Als Leiter der Kunstgewerbeschule in Weimar wurde er Vorläufer des Bauhauses. Seinen Stil kennzeichnet die Linie mit dem „großen Atem“, die Eleganz der Konturführung. Und in der Linie hat er jene Kraft gesehen, „die ihre Natur nicht verleugnen, ihrem Schicksal nicht entgehen wird. Linien – übertragene Gebärden – das ist das Wunder“ – und zugleich das Geheimnis der Art Nouveau, des Jugendstils auf Französisch und Belgisch.
Belles Choses. Art Nouveau um 1900, Bröhan-Museum, Schloßstr. 1a, 14059 Berlin; bis 14. April 2024. Katalog (Hirmer Verlag) im Museum 28,00 Euro.
Schlagwörter: Alfons Mucha, Art Nouveau, Bröhan-Museum, Emile Gallé, Jugendstil, Klaus Hammer