27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Von der Ausgrenzung zur Vernichtung

von Mario Keßler

War die Emanzipation der Juden in Deutschland von vornherein zum Scheitern verurteilt? Sie wäre im Rahmen eines allgemeinen Emanzipationsprozesses durchaus möglich gewesen. Doch das deutsche Bürgertum war weder fähig noch insgesamt willens, die dafür notwendige bürgerliche Revolution zu vollziehen. Dies zeigte sich noch in der Weimarer Republik.

Die Juden stellten damals mit rund 600.000 Gemeindemitgliedern weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung. Selbst wenn man getaufte Juden und Nachkommen aus sogenannten Mischehen hinzurechnet, hätte diese geringe Zahl normalerweise nicht ausgereicht, um den Phantasmagorien der Antisemiten, die Juden würden Deutschland unter ihr Joch zwingen wollen, eine belastbare Basis zu geben. Doch hatte der seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer weiter rassistisch aufgeladene Antisemitismus seine Langzeit- und Tiefenwirkung nicht verfehlt. Da die Weimarer Republik den Juden bessere berufliche Chancen einräumte als das Kaiserreich, waren Juden tendenziell eher bereit, die demokratische Republik zu akzeptieren als die nichtjüdische Bevölkerungsmehrheit, die darin oft nur ein Diktat der westlichen Sieger des Weltkrieges sah. Die Nazi-Bewegung, aus der Krise nach 1918 entstanden, stieß zunächst nicht auf breite Unterstützung der Herrscherklassen. Vielmehr sahen die Großindustrie und das Junkertum mit einigem Unbehagen auf den plebejischen Schmutz, der den wachsenden Massenanhang der Nationalsozialisten, wie sie sich nannten, ausmachte. Sie konnten dennoch kaum ihre Befriedigung über das Auftauchen einer Bewegung verbergen, die versprach, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und die Ergebnisse des Weltkrieges zu revidieren. Die Ausschaltung jüdischer Konkurrenten aus dem Wirtschaftsleben schien nur eine „Zugabe“ zum zweiten Griff des deutschen Imperialismus nach der Weltmacht zu sein.

Es ist dieser Kontext, innerhalb dessen Julius H. Schoeps, emeritierter Professor für deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit in Potsdam, ein beeindruckendes Kollektivporträt der Juden zwischen der Zerschlagung der ersten deutschen Demokratie und der Etablierung des Faschismus zeichnet. In sieben umfangreichen Kapiteln und einem Epilog zeigt Schoeps die Intensivierung des Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg über die Inflation bis hin zur Weltwirtschaftskrise, die Zerstörung der demokratischen Institutionen 1933, die Unterdrückung der Presse, die Anpassung der Intellektuellen bis hin zur „Selbstgleichschaltung“ an den Hochschulen, den Mord und Terror im Alltag, die Flucht und Vertreibung der Juden mitsamt dem Raub ihres Hab und Gutes im Zuge der sogenannten „Arisierung“ der Wirtschaft. Obwohl das Buch im Wesentlichen nur die Jahre bis zur nazistischen „Rassengesetzgebung“ im September 1935 umfasst, greift der Autor immer dann über diese Zeitmarke hinaus, wenn er die Konsequenzen dieses barbarischen Tuns aufzeigt; eines Tuns, das in seiner gewollten Eskalation die Voraussetzungen für den industriell betriebenen Massenmord schuf.

Bis zu ihrer Ausgrenzung und Vertreibung waren Juden in allen Schichten der deutschen Bevölkerung präsent, wobei sie überproportional unter den städtischen Mittelklassen vertreten waren. Außer einer nennenswerten Zahl von „Ostjuden“, die meist in der ersten Generation in Deutschland lebten und deren bevorzugte Sprache das Jiddische war, sahen sich die Juden ganz selbstverständlich als Deutsche. Sie waren akkulturiert, zum Teil christlich getauft, doch auch bei den Nicht-Christen unter ihnen stand im Dezember oft der Weihnachtsbaum neben dem Chanukka-Leuchter. Nicht wenige Männer unter ihnen waren stolz auf ihre militärischen Auszeichnungen, die sie im Ersten Weltkrieg erhalten hatten. Eine Minderheit lehnte die Assimilation formal ab und neigte dem Zionismus zu, ohne nach Palästina auswandern zu wollen. Viele engagierten sich in liberalen Parteien, nicht wenige in der Arbeiterbewegung, unter der noch die klarsten Warnungen vor dem heraufziehenden Faschismus zu hören waren. Konservative Juden, darunter der Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps, verstanden sich ohne Einschränkung als deutsche Patrioten und wollten nicht wahrhaben, dass die Assimilation eine Illusion blieb; auch darüber berichtet sein Sohn, der Verfasser des Buches, in sehr persönlicher, berührender Weise.

Aus der enzyklopädisch anmutenden Materialfülle sei ein Markstein antijüdischer Entrechtung herausgegriffen: Im August 1933 schlossen die Deutsche Reichsbank und die Anglo-Palestine Bank das Haaverah-(Transfer-)Abkommen. Danach zahlten jüdische Kapitalbesitzer, die sich entschlossen, Deutschland in Richtung Palästina zu verlassen, ihr Kapital in Deutschland ein. Dieses wurde zum Export deutscher Waren nach Palästina benutzt. Der Transfer erfolgte in der Form, dass das liquide Vermögen der Auswanderer bei einer Treuhandstelle in Deutschland gutgeschrieben wurde. Von ihr waren die für ein „Kapitalisten-Zertifikat” notwendigen Devisen zu erhalten; darüber hinaus gehende Beträge wurden in Form von Waren transferiert, das heißt mit diesen Geldern wurde der Import deutscher Waren nach Palästina finanziert. Bei diesem Verfahren verloren die Juden einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens durch Veräußerungsverluste, Zwangsabgaben und Transferkosten. Das finanzielle Gesamtvolumen des Transfers (knapp 140 Millionen Reichsmark bis 1939) und der Import wichtiger Investitionsgüter aus Deutschland waren entscheidende Faktoren der Festigung jüdischer Existenz in Palästina, in einer Periode, in der diese durch den arabischen Aufstand politisch gefährdet war. Der Gewinn, der Deutschland aus diesem Raubzug zufiel, war um ein Vielfaches höher. Gegen zeitgenössische Kritik betont Schoeps dennoch mit Recht, dass dieser Weg keine moralisch fragwürdige Kollaboration, sondern „eine der wenigen verbleibenden Möglichkeiten für die deutschen Juden war, ihre Auswanderung legal zu organisieren.“

Der Autor zieht eine Vielzahl von Selbstzeugnissen heran, darunter die Tagebücher von Victor Klemperer, Willy Cohn und Walter Tausk, dazu Korrespondenzen und Memoiren. Dadurch, sowie durch die Auswertung fast der gesamten Forschungsliteratur wird das Buch zu einem unverzichtbaren Kompendium dokumentierten Unrechts. Das Buch ist aber auch in einer anderen Hinsicht ungemein wichtig: Es zeigt in einer bislang kaum gebotenen Dichte die Reaktionen nichtjüdischer Deutscher. So wichtig jedes einzelne Beispiel an Protest und Beistand war: Die vorherrschende Reaktion von Nichtjuden war nicht so sehr das Mitmachen bei der Entrechtung, oft aber das Wegschauen, die Verweigerung von Hilfe auch dort, wo dies noch kein unmittelbares Risiko für die Helfer bedeutete. Und heute? Gibt es, bei allen Unterschieden zur Nazizeit, nicht doch einige verstörende Parallelen im Verhalten der Mehrheitsgesellschaft, wenn Synagogen, jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten beschmutzt und entweiht werden? Tritt auch heute nicht oft Gleichgültigkeit bis hin zur Schadenfreude an die Stelle tätiger Hilfe?

Ähnliche Fragen werfen die Texte eines Sammelbandes auf, der auf eine Tagung der Gewerkschaft Ver.di in Lübeck am 21. Oktober 2021 zurückgeht. Von den acht Beiträgen können hier nur zwei kurz gewürdigt werden, deren Autoren vor wenigen Monaten verstarben: Ian King, der der Frage nachgeht – und sie klar verneint – , ob Kurt Tucholsky Antisemit war, und Wolfgang Beutin, der über Juden und jüdische Figuren im Werk bürgerlich-realistischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts informiert. Waren Wilhelm Raabes Werke (vor allem der „Hungerpastor“) von antijüdischen Vorurteilen nicht immer frei, erscheinen bei Fritz Reuter („Ut mine Stromtid“) und Willibald Alexis („Der Roland von Berlin“) Juden als positive Gestalten. Marie von Ebner-Eschenbach zeigt in ihrer Erzählung „Der Kreisphysikus“ einen jüdischen Arzt, der seiner anfänglichen Habsucht entsagt, sich auf die jüdische Ethik zurückbesinnt und ein altruistisches Verhalten praktiziert. Sind diese jüdischen Gestalten nicht ohne Stereotypen gezeichnet, so wird doch sichtbar, dass sie menschliche Werte verkörpern.

Unbedingt hingewiesen sei abschließend auch auf die Studie der polnischen Literaturwissenschaftlerin Grazyna Barbara Szewczyk über Gedichte polnisch-jüdischer Frauen in Gefängnissen und Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkrieges. Hier werden neben einigen bekannten (Halina Birenbaum, Gertrud Kolmar) auch solche in Deutschland bislang kaum erwähnte Lyrikerinnen vorgestellt und gewürdigt.

 

Julius H. Schoeps: Düstere Vorahnungen. Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe (1933-1935), Hentrich & Hentrich, Leipzig 2022, 612 Seiten, 35,00 Euro.

 

Heidi Beutin / Hans-Ernst Böttcher / Frank Hornschu (Hrsg.): Von der Bedeutung der Vielfalt und ihrer Zerstörung (1933 bis 1945). Oder: Ansätze einer deutsch-jüdischen Kultursynthese und ihre Feinde, Ossietzky Verlag, Berlin 2022, 128 Seiten, 9,00 Euro.