Kann die selbstbewusste und tüchtige Dora Diamant Kafka aus den Gedanken reißen, dass ihm die „Menschenwelt“ zusehends entgleite? Kann er mit ihr der Wiederholung alter Lebensmuster entgehen? Die polnische Jüdin Dora Diamant war 25 und Kafka soeben 40 geworden, als sie sich im Juli 1923 an der Müritz kennen lernten und dann zusammen in Berlin lebten. Während ihn ihre ostjüdische Herkunft neugierig machte, strebte sie nach der Freiheit und aufgeklärten Lebensweise des Westens.
Dora konnte es an literarischer Bildung mit der in Wien lebenden tschechischen Journalistin Milena Jelenska, verheiratete Pollak, mit der Kaffka ein Brief- und Liebesverhältnis verbunden hatte, nicht aufnehmen und zeigte selbst nach Kafkas Tod wenig Sinn für sein schriftstellerisches Werk. Sie schätzte mehr den Menschen Kafka, seinen außergewöhnlichen Charakter – und Kafka wiederum schöpfte aus ihrer Energie neue Kraft. Sie war die einzige Frau, mit der er je zusammenlebte.
Seine früheren Beziehungen, zumal jene mit Felice Bauer, waren an seiner Angst gescheitert, zu große Nähe könnte sein Schreiben und damit ihn selbst auf unerträgliche Weise gefährden. Doch Dora hatte plötzlich von seinem Leben Besitz ergriffen – und dies schien ihm keinerlei Probleme bereitet zu haben. In ihr schien er gefunden zu haben, was er sein Leben lang vermisst hatte: eine natürliche, verständnisvolle Partnerin. Durch die Liebe zu Dora war Kafka nicht nur der Einsamkeit entronnen, sondern auch Prag. „Ich möchte wohl wissen, ob ich den Gespenstern entkommen bin“, habe er immer wieder gesagt, so erinnerte sich Dora später. Doch – nein, die Gespenster tanzten noch immer. Seine besorgniserregende Krankheit erzwang Mitte März 1924 eine Rückkehr nach Prag und von dort weiter – hingebungsvoll von Dora umsorgt – ins Sanatorium in Kierling, wo er am 3. Juni, einen Monat vor seinem 41. Geburtstag, starb.
Kafka und die Frauen waren ein beliebtes Thema von Kafka-Biographen, das auch immer wieder interessierte Leser gefunden hat. Doch Dora Diamant, obwohl sie wohl die tiefste seelische Beziehung mit Kafka verband, stand weniger im Fokus der Beachtung, wohl weil sie ihm mehr liebevolle Partnerin und weniger literarische Wegbegleiterin war.
Aber das war ja die Berliner Prokuristin Felice Bauer ebenfalls nicht. Denn auch Felice hat dem Prager Dichter, der bald ihr zweimaliger Verlobter wurde – 1917 hatten sie sich dann endgültig getrennt –, von ihrer täglichen Arbeitswelt, ihren Besuchen im Metropoltheater und im Kino, ihren Tanzvergnügungen – man tanzte gerade den Tango in Berlin – und vielem anderen berichtet. Kafka erwartete täglich ihre Briefe, und sie musste ihm selbst das Unbedeutendste in ihrem Berliner Tagesablauf erzählen. Hans-Gerd Koch, der 2008 über Kafka in Berlin schrieb, stellt deshalb die berechtigte Frage: War Kafka nun eigentlich in Felice oder in Berlin verliebt? Während ihrer fünfjährigen Beziehung war Kafka lediglich 20 Tage in Berlin gewesen, aber die Paradoxie von Ferne und Nähe wurde für den schreibenden Kafka zur einigermaßen erträglichen – – und daher fast idealen – – Bedingung und prägte eben auch Linien, die in sein literarisches Werk Kafkas führen.
Dieter Lamping – er hat bis 2019 als Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mainz gelehrt und unter anderem Bücher über Goethe, Kafka und Jaspers geschrieben – nimmt uns nun in seinem biographischen Essay „Andes leben. Franz Kafka und Dora Diamant“ mit in die letzten elf Lebens-Monate Kafkas 1923/24, die dieser zusammen mit Dora Diamant in Berlin verbrachte. „Anders muss man leben“, hatte Kafka im Juli 1923 seinem Freund Robert Klopstock geschrieben. Hier, an der Müritz, wohin er seiner Schwester Elli gefolgt war, in einer Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheimes, war er Dora Diamant begegnet und beide verbrachten viel Zeit miteinander. Konnte er mit dieser selbstbewussten und tüchtigen jungen Frau wirklich der Wiederholung bisheriger Lebensmuster entgehen? Am 23. September 1923 begab sich der geschwächte Kafka abermals nach Berlin und nahm in Steglitz Quartier. Am 1. Februar 1924 zog er mit Dora nach Zehlendorf, und dass er wirklich zum ersten Mal mit einer Frau zusammenlebte, schien nun die selbstverständlichste Sache der Welt zu sein.
Was beide – Kafka als Sohn assimilierter böhmischer Juden, und Dora, die sich aus ihrer Familie orthodoxer Juden gelöst hatte – in ihrer Zuneigung auch miteinander verband, war ihr Interesse am Zionismus. Den Besuch der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin-Mitte musste er bald einstellen, da seine Kräfte nachließen. Aber das Jüdische, das ihn anzog, so lässt uns Lamping wissen, schien er eher in der Lebensweise Doras gefunden zu haben. Das Leben in Zeiten der Inflation war höchst kostspielig, mehrfach mussten die Wohnungen – zwei in Steglitz, eine Zehlendorf – – gewechselt werden. Wenn es sein Gesundheitszustand zuließ, empfingen beide Gäste, so den Freund Max Brod, Kafkas jüngste Schwester Ottla, die sich um seinen Zustand sorgte, aber auch die Journalisten Willy Haas und Rudolf Kayser, den expressionistischen Lyriker Ernst Blass, den Erzähler Ernst Weiß, den „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch und Jarmila Haas wie auch Franz Werfel.
Als Schriftsteller konnte Kafka erst „im Schatten des Todes“ leben, so Dieter Lamping. Aber wenn Kafka nunmehr schrieb, sollte Dora als „stille Zuschauerin seines Schreibens“ präsent sein. Hier in Berlin wurde er von einigen prominenten Kritikern entdeckt – und Kafka wiederum setzte sich für seine Freunde Robert Klopstock, Ernst Weiß und Oskar Baum ein.
In dem neuen Berliner Verlag „Die Schmiede“ kam mit den bereits schon veröffentlichten Texten „Erstes Leid“ und „Ein Hungerkünstler“ ein neuer Erzählband heraus, dem sich noch „Eine kleine Frau“ und „Josefine, die Sängerin“ hinzugesellten. Er mag in „Eine kleine Frau“ auch seine Erfahrungen mit seiner ersten Berliner Vermieterin, Frau Hermann, mitgeteilt haben. Aber diese Erzählung ist viel mehr – „die wohl einzige Geschichte Kafkas, die mit der Selbstbehauptung des Ich-Erzählers endet“, so Lamping – und damit ein Zeugnis für Kafkas feste Absicht, das gerade erst begonnene freie Leben so lange wie möglich zu behaupten.
Der längste Text, den der von Lungentuberkulose und Hustenanfällen gepeinigte Kafka in Berlin schrieb, hat von Max Brod den Titel „Der Bau“ erhalten. Aber warum hat sich Lamping gerade nicht mit den verschiedenen Kontext-Welten dieses meisterhaften Stückes Prosa beschäftigt? Das Tier gräbt sich hier sein „Grab“ in die Erde, denn durch seine Abwehr und Verdrängungen wird ja Leben vernichtet und Tod hervorgerufen. „Aufschub“ bedeutet eben eine Art „Sterben“: „Ist das nicht schon der Tod im Dienst eines Lebens, das sich vor dem Tod nur durch die Ökonomie des Todes, den Aufschub, die Wiederholung und den Vorrat schützen kann?“ Paradoxerweise führt jeder Schritt im Namen der Rettung und des Schutzes des Lebens zur Gefährdung und Einschränkung ebendieses Lebens. Das Bauen nimmt daher den allegorischen Charakter eines Kampfes zwischen Leben und Tod, eines Kampfes um den Aufschub eines gewissen Endes an. Der herankommende, unbekannte Gegner könnten eben auch die Krankheit und der Tod sein.
Kafkas Spiel mit autobiographischen Signalen wurde zur selbsttherapeutischen Überlebenskunst. Allerdings widersetzt es sich immer wieder einer direkten autobiographischen Entschlüsselung, auch wenn Kafka in vielen seiner Geschichten unverkennbar seine eigenen Konflikte durchgespielt hat. Vielleicht hätte sich hier aber gerade für die Berliner Zeit ein spannendes, neue Deutungen und Wertungen erheischendes Thema aufgetan. Zu Spekulationen hingegen neigt der Wissenschaftler Dieter Lamping keineswegs, seine Darstellung will als biographischer Essay und nicht als akademische Studie verstanden werden. Und sein Verdienst ist gerade, das Intim-Biographische in der Beziehung Kafkas zu Dora Diamant als Moment des Gesellschaftlichen kenntlich gemacht, den bei Kafka so komplexen Beziehungen von Ästhetischem und Gesellschaftlichem nachgespürt zu haben. Und so ist ihm ein ebenso höchst fesselnder wie nachdenklich stimmender Text gelungen.
Nach der Abreise aus Berlin begannen die knapp drei letzten Lebens-Monate, Kafkas qualvolles Sterben. Dora, der er noch auf dem Krankenbett einen Heiratsantrag gemacht hatte, wich bis zuletzt nicht von seiner Seite.
Dieter Lamping: Anders leben. Franz Kafka und Dora Diamant (mit Grafiken von Simone Frieling), ebersbach & simon, Berlin 2023, 121 Seiten. 20,60 Euro.
Schlagwörter: Dora Diamant, Kafka, Klaus Hammer