27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Der rasende Reporter

von Mathias Iven

Es war der Philosoph Emil Utitz, der dem Leben und Werk von Egon Erwin Kisch eine der ersten Monographien gewidmet hat. Kurz vor seinem Tod im November 1956 erschien im Berliner Aufbau Verlag die schmale, gerade einmal 200 Seiten umfassende Studie mit dem Titel „Egon Erwin Kisch, der klassische Journalist“. Schon die ersten Seiten verrieten die persönliche Nähe des Autors zu seinem Stoff. Denn so wie Kisch, hatte auch der 1883 geborene Utitz seine Kinder- und Jugendjahre in Prag verbracht. Und nicht nur das. Zu seinen Mitschülern gehörte neben Franz Kafka und Hugo Bergmann auch Paul Kisch, der älteste der fünf Kisch-Brüder. Nach der Schule traf man sich im Haus „Zu den zwei goldenen Bären“, dem noch heute existenten Stammhaus der Familie in der Melantrichova/Ecke Kožná, das Utitz als „eine Art geselliges Zentrum“ in Erinnerung behielt. „Mehr als ein halbes Jahrhundert kannte ich K.“, schrieb Utitz am Ende seines Buches, „wenn auch manchmal sehr lange Zeit zwischen unserem Zusammensein lag. Auf jeden Fall bin ich einer der wenigen Zeugen seiner frühen Jugend und des ganzen Milieus, das sie umgab. Die letzte Zeit seines Lebens konnte ich wieder aus nächster Nähe verfolgen.“ Ein letztes Mal sahen sie sich am Abend des 23. März 1948, eine Woche vor Kischs Tod …

Bis heute sind Leserinnen und Leser von Kischs Texten fasziniert. Und meist fragen sie sich: Wer war eigentlich dieser Mann und hat er das wirklich alles erlebt? Eine anlässlich des 75. Todestages erschienene Biographie versucht darauf Antworten zu geben. Vorgelegt hat sie der Berliner Journalist und Filmemacher Christian Buckard. Souverän verarbeitet er darin das vorhandene Material, liest Kischs Artikel und Bücher neu, und trennt dabei Wahres und Unwahres.

Bleiben wir bei den Tatsachen und schauen wir auf Kischs wichtigste Lebensstationen. Obwohl es seitens der Schule verboten war, veröffentlichte er in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1899 seine ersten Gedichte. Unterzeichnet hatte sie der Vierzehnjährige mit „E. Kisch“. Warum der zuständige Redakteur allerdings entschied, sie unter dem Namen „Erwin Kisch“ zu veröffentlichen, blieb ein Rätsel. Doch zukünftig sollte es nur noch einen Autor namens Egon Erwin Kisch geben.

Nach zwei kurzen Intermezzi an der Prager Kaiserlich-Königlichen Deutschen Technischen Hochschule beziehungsweise an der Karls-Universität hatte Kisch als Einjährig-Freiwilliger seinen Militärdienst abzuleisten. Laut eigener Aussage verbrachte er angeblich 147 Tage in der Arrestzelle. Aufmerksam lauschte er während dieser Zeit den Gesprächen der Mitgefangenen. „Das war“, schrieb er später, „eine andere Welt als die, in der ich bisher gelebt, da gab’s manches zu lernen, manches zu verlernen.“ Alles in allem wurden die Tage und Nächte hinter Gittern für Kisch zu einer ganz besonderen Art „Universität“.

Im September 1905 verließ Kisch Prag, um das Journalistenhandwerk zu erlernen. Und wo ging er hin? Natürlich nach Berlin, an die private Journalistenschule von Richard Wrede. Neben seiner Ausbildung besuchte er an der Friedrich-Wilhelms-Universität Vorlesungen zur Literatur sowie zum Strafrecht, zur Gerichtsmedizin und Kriminalanthropologie. Doch bereits nach gut sechs Monaten zog er einen Schlussstrich. Lag es an Wredes Hochschule oder gar an der deutschen Hauptstadt? Schließlich hatte er seinem Bruder Paul schon kurz nach der Ankunft mitgeteilt: „Berlin im allgemeinen ist direkt furchtbar. Trotz der Annehmlichkeit, welche das ungestörte, selbstständige Leben bietet, wäre ich lieber in Prag.“

So geschah es. Zurück in Prag wurde Kisch im April 1906 bei der deutschen Tageszeitung Bohemia Nachfolger des damals legendären Kriminalreporters Melzer. Eine Ehre, die Kischs Neugier entgegenkam, sich mit den Abgründen und Schattenseiten der menschlichen Existenz zu beschäftigen. „Alles, was er während dieser Jahre schreiben sollte“, so fasst Buckard die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg zusammen, „wurde von ihm nicht nur ungewöhnlich spannend erzählt, es musste auch ungewöhnlich genau recherchiert werden. Nach Kischs Auffassung musste vielleicht nicht alles Wort für Wort stimmen – tatsächlich war [Max – M.I.] Brod sicher, dass Egonek seine Prager Unterwelt-Erlebnisse mitunter ,fingierte‘ –, aber alles musste letztlich doch wahrhaftig sein. Und diese Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit betraf auch die im Interesse der Unterhaltsamkeit von Kisch kunstvoll ,fingierten‘ Passagen.“ Die Reporterlegende Egon Erwin Kisch war geboren.

Es begann die Zeit der Reisen: Griechenland, Italien, Türkei. Er fuhr auf einem Floß auf Moldau und Elbe bis nach Magdeburg, machte Reportagen in Antwerpen und London. Im Juni 1913 zog es ihn wieder an die Spree, wo er für das Berliner Tageblatt arbeitete. Sein untrüglicher Blick für faszinierende, interessante oder amüsante Details des Alltags, an denen die Kollegen achtlos vorübergingen, wurde zum Markenzeichen seines Schreibens. Einer steilen journalistischen Karriere schien nichts mehr im Wege zu stehen – doch dann kam der August 1914.

Kisch kam zunächst an die serbische, später an die russische Front, wo er schwer verwundet wurde. Im Mai 1917 wurde er, durch wessen Unterstützung auch immer, im Range eines Oberleutnants ins Wiener Kriegspressequartier abkommandiert. Nach dem Ende des Krieges wählten ihn seine Kameraden zum Kommandanten der „Roten Garde“. Da er sich aber nicht als „Berufsrevolutionär“ sah, beschränkte er sich schon bald auf die redaktionelle Mitarbeit bei der Roten Garde, der Beilage zum Wochenblatt Der freie Arbeiter. Im Sommer 1920 sagte er sich von all dem los, verließ Wien und kehrte nach Prag zurück – nur, um wenig später wieder auf Reisen zu gehen.

Vom Herbst 1921 bis zum Frühjahr 1933 lebte Kisch überwiegend in Berlin. Er arbeitete für verschiedene Zeitungen, so für die Weltbühne, Die Rote Fahne oder den Berliner Börsen-Courier. Und er veröffentlichte mehrere Bücher. So erschien 1924 Der rasende Reporter, jenes Buch, das exemplarisch für den modernen Typus des Reporters stand. Im Vorwort des Buches, gleichsam als Kischs Credo zu lesen, schrieb er: „Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verläßlich, wie sich eine Aussage geben läßt. – Jedenfalls ist sie (für die Klarstellung) wichtiger als die geniale Rede des Staatsanwalts oder des Verteidigers.“ Diesen Satz hätte ein bürgerlicher deutscher Journalist Jahrzehnte später einfach zitieren können, doch zumindest Kischs Diktum hat er inhaltlich wieder in Erinnerung gerufen: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten […].“ (Hanns Joachim Friedrichs)

Unaufhörlich trieb es Kisch in den nächsten Jahren immer wieder in die Welt hinaus. Zu seinen Stationen gehörten die Schweiz und Frankreich ebenso wie Tunesien und Algerien oder die Vereinigten Staaten. Mehrmals hielt er sich in der Sowjetunion auf, reiste von dort 1932 nach China und Japan. Nach der Machtergreifung der Nazis und einer kurzzeitigen Inhaftierung in der Zitadelle Spandau verließ er im März 1933 Deutschland. Nach etlichen Zwischenstationen gelangte er schließlich Ende 1940 nach Mexiko, wo er sich bis zum Februar 1946 aufhalten sollte. Zurück in Prag stürzte sich Kisch wieder in die Arbeit, doch vieles, woran er in den letzten beiden Lebensjahren arbeitete, blieb unvollendet.

„Kisch hat ein literarisches Œuvre hinterlassen“, so Buckards abschließendes Urteil, „das in seiner Höhe, Breite und Tiefe seinesgleichen sucht. Selbst wenn er seine Karriere nach der Veröffentlichung der Reportagesammlung Der rasende Reporter beendet hätte, wären ihm ein Ehrenplatz in der Geschichte der Prager Literatur und der bleibende Ruhm als Schöpfer und Pionier der modernen deutschsprachigen Reportage sicher gewesen.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

Christian Buckard: Egon Erwin Kisch – Die Weltgeschichte des rasenden Reporters. Die Biografie, Berlin Verlag, Berlin/München 2023, 444 Seiten, 28,00 Euro.