Polstermöbel aufarbeiten lohnt sich wieder. Der Satz steht auf einem großen Werbeplakat in der Berliner U-Bahn. Es geht darum, Altes wieder hübsch zu machen und nutzbar zu halten. Für besonders ans Herz Gewachsenes betreibt man doch gerne einigen Aufwand und sucht handwerkliches Geschick.
Gilt das auch für die DDR? Als Stück aus der Vergangenheit, das noch einen Platz in der Lebensumgebung behalten soll? Die überschaubar kleine Gruppe von Menschen, die sich seit inzwischen mehr als 30 Jahren der DDR-Aufarbeitung widmet, hat anderes im Sinn als nachhaltiges Aufhübschen.
Aber handwerklich ist auch sie organisiert, ein paar Dutzend, überwiegend aus der DDR-Bürgerrechtlerszene hervorgegangene Leute sind in der Aufarbeitungszunft aktiv, der Begriff „Aufarbeitungsindustrie“ ist nicht gerechtfertigt. Manchmal ist auch von „Aufarbeitungslandschaft“ die Rede. Das wäre dann ein bescheidener, nicht besonders gut aufgeräumter Park. So oder so ergreifen die Ergebnisse der Aufarbeitungsmanufakturen erst dann die Massen (um es in der Sprache der DDR zu sagen), wenn sie von der Medienmaschinerie per Großgebläse ins Land gepustet werden.
Dabei hilft, um das nicht zu vergessen, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur, gegründet am 5. Juni 1998 mit dem Auftrag, Projekte, Archive, Verbände, Wissenschaftler und Bildungseinrichtungen zu beraten und zu fördern. Das Stiftungskapital von 75 Millionen Euro stammte sinnigerweise aus dem SED-Vermögen. Mit den Zinserträgen und einem jährlichen Bundeszuschuss werden die Aufarbeitungsarbeiter finanziert.
Im vergangenen Jahr brachte der Bürgerrechtler Rainer Eckert, gebürtiger Potsdamer, Historiker, 1997 bis 2015 Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig und langjähriges Mitglied des Vorstands der Bundesstiftung mit einem Buch erhebliche Unruhe in die Szene: Es heißt „Umkämpfte Vergangenheit. Die SED-Diktatur in der aktuellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland“. Darin arbeitet er die Aufarbeitung auf. Hallo, gab das Ärger mit den Kollegen!
Auf Intervention von Ines Geipel und Uwe Schwabe wurde das Erscheinen des Buches gestoppt. Dann wurden auch weitere Stellen in dem zuvor wohlwollend gelesenen Manuskript angezweifelt, kritisiert, verworfen. Die Stiftung Aufarbeitung strich den bereits zugesagten Zuschuss und der Mitteldeutsche Verlag setzte seinen Autor an die Luft. Das Buch kursierte derweil als unveröffentlichtes Manuskript – Verbotenes weckt naturgemäß Interesse. Anja Reich nannte es in ihrer Besprechung in der Berliner Zeitung „Zeugnis einer großen Tragödie“.
Mittlerweile hat die Debatte um die DDR-Vergangenheit zwei Turbo-Schübe erhalten – und zwar von außerhalb des immer gleichen Kreises bisheriger Geschichtsdeuter: erstens durch das Buch des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann im Februar, das bald darauf in den Bestsellerlisten nach oben schoss und inzwischen seine 15. Auflage erlebt, und zweitens durch Katja Hoyers umfassende und umfangreich recherchierte Studie „Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“. So kam es zu einer neuerlichen Betrachtung des Buches von Rainer Eckert.
Um es vorweg zu sagen: Die Lektüre des Werkes des (einschließlich des Apparats) 435 Seiten langen Werkes lohnt sich mehr denn je. Dieses im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdige Buch ist ein echtes Erlebnis, passagenweise derart aufwühlend, dass man es besser nicht als Bettlektüre in Erwägung zieht.
Rainer Eckert hat nach den Attacken aus dem Aufarbeiterkreis einige Stellen korrigiert, präzisiert, ergänzt. Er fand mit dem Leipziger Universitätsverlag einen neuen Verleger und schildert in einem neuen Prolog die Geschichte des Versuchs, sein Buch zu canceln. Mit diesem Text ergänzt er die „Sicht auf die Geschichtspolitik“ (siehe Untertitel) um eine wertvolle Facette.
Kurz nachdem das Buch im Frühjahr 2023 dann doch erschienen war, sagte Eckert in einem Interview mit der Berliner Zeitung, er sei aus Ärger aus dem Stiftungsrat ausgetreten, weil man ihm den Druckkostenzuschuss gestrichen hatte, aber auch weil „nach so langer Zusammenarbeit niemand aus der Stiftung auch nur einmal mit mir persönlich darüber gesprochen hat, weder Rainer Eppelmann noch Markus Meckel oder Anna Kaminsky, die Chefin der Stiftung.“ Da schwante einem schon, was einen erwartete.
Eckert bietet einen Blick in eine Schlangengrube. Wer sich in den vergangenen Jahren über das gezeichnete DDR-Geschichtsbild wunderte, erfährt hier, unter welchen Umständen große Teile dieses Bildes gepinselt wurden. Das Buch bietet großes Drama: Eitelkeiten, Intrigen, Neid, komplexe Persönlichkeiten, schwierige Charaktere, Passionen, große Momente und kleinkarierte Boshaftigkeiten, gegenseitiges Verletzen und Diffamieren, „Opferkonkurrenz“, Kampf um Posten, Einfluss und Geld, um zerbrochene Freundschaften und gelegentlich auch mal Solidarität. Und über allem steht der Drang nach Deutungshoheit darüber, was die DDR gewesen sei. Rechthaben. Das letzte Wort.
Manche Konflikte erreichten die Öffentlichkeit, andere wurden intern ausgetragen – so weit, so normal. Dass Eckert einige davon „unter der Decke“ hervorzieht, ist originäre Historikerarbeit. Ebenso spannend seine Erkenntnisse und Gedanken zu Veränderungen im Personal bundesdeutscher Geschichtsbefassung: Demnach hatte die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur überwiegend in den Händen linksliberaler Historiker, Museumsdirektoren und Gedenkstättenleiter gelegen; nach der Wiedervereinigung änderten, so Eckert, „ehemals linke – teilweise auch linksradikale – Wissenschaftler ihren Standpunkt und mutierten zu Wortführern bei der ,Aufarbeitung‘ der SED-Diktatur im konservativen Lager.“ Als Beispiele nennt er den Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin oder den ehemaligen Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Dr. Hubertus Knabe.
Hinsichtlich vieler Alt-68er erkennt Eckert „Revolutionsneid“, „nämlich Frust darüber, dass andere ein politisches System, eine Diktatur stürzen konnten, was jenen westdeutschen Linksradikalen von einst mit einer Demokratie (glücklicherweise) nicht gelungen war.“
Welche Rolle die zahlreichen sichtbaren und untergründigen Konflikte in den Auseinandersetzungen um die Stasi-Unterlagenbehörde, den Standort von Erinnerungsstätten, die Besetzung von Forschungsstellen oder Berufungen von Beauftragten für Dies und Das und Sonstnochwas spielten, das ist bei Eckert detailliert zu erfahren. Und – so kompakt und ausführlich zugleich, unter Nennung von Namen und Hausnummer – wird klar, wie stark dies alles auch das Nachforschen in der eigenen Biografie, die Sicht auf das eigene Leben beeinflusst hat. War die DDR ein „Unrechts-Staat“ und das eigene Leben Teil von „Unrecht“, egal wie unbescholten es war?
Einem war es gelungen, sich zur zentralen Figur der DDR-Dämonisierung zu inszenieren und die Szene zu dominieren: der schon erwähnte Hubertus Knabe, inzwischen wegen Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffigkeiten in seinem Hause aus dem Amt entfernt. Höchst empfehlenswert daher das Kapitel „Kampf um Hohenschönhausen“.
Hier wird beschrieben, wie Knabe die ehemalige Untersuchungshaftanstalt des MfS wie ein „privates Fürstentum“ führte, wie er „eine ,Wasserfolterzelle bzw. -maschinerie‘ im ‚U-Boot, einer unterirdischen Zellenanlage, die es nie gab“, einbauen ließ, wie Rechtsradikale als Besucherbegleiter agierten, wie Schüler in Überwältigungsmanier von Gedenkstättenmitarbeitern fiktiven „Verhören“ unterzogen und dabei in Gefängniszellen gesperrt wurden, wie Knabe sich selbst hinter Gittern mit leidendem Gesicht fotografieren ließ und so eigenes Opfertum suggerierte, wie es Knabe gelang, dass wissensarme Journalisten glaubten, der Mann sei Ostdeutscher und habe selbst in Stasi-Gefängnissen gesessen, wie es Knabe anstellte, sich selbst den Medien als eine Art Leitkommentator für Fragen zur DDR-Diktatur anzudienen. Eine schier unglaubliche (hier unvollständige) Liste.
Rainer Eckert tut es leid, als wissendes Mitglied des Stiftungsrates und des wissenschaftlichen Berats nicht eingegriffen zu haben, ebenso wenig wie seine Kollegen: „Wir rafften uns aber nie auf, wirklich etwas zu tun: Vielleicht fürchteten wir die Öffentlichkeit oder waren uns nicht sicher, für die Kündigung eine Mehrheit zu erringen. Auch ein Kultursenator von der PDS war für Knabe eher ein Schutzschild, da dieser sich nicht den Vorwurf machen lassen wollte, er würde gegen einen Kritiker der DDR vorgehen.“ Finstere Strukturen von Macht und Einschüchterung, dominiert von einem „glühenden Antikommunisten“.
Kein Wunder also, dass in einer solchen Atmosphäre die „Aufarbeitung“ ein DDR-Geschichtsbild hervorbrachte, in dem sich DDR-Bürger nicht wiederfanden. Als eine Mutter, Kosmetikerin von Beruf, in Pandemie-Zeiten mit ihrem Sohn im Homeschooling das Kapitel DDR-Geschichte durchnehmen sollte, warf sie zum ersten Mal einen Blick in sein Geschichtsbuch. Sie war entsetzt: „Nichts als Spitzel, Not und Unterdrückung. Dieses dort beschriebene Land kenne ich nicht.“ Ihre Reaktion auf die Diskrepanz zwischen eigener Erfahrung und offizieller Darstellung erinnert an einen der vielen Gründe für das sang- und klanglose Zusammenbrechen der DDR: Was die DDR-Führung in den Massenmedien ihren Bürgern als Bild ihres Lebens präsentierte, wich eklatant von deren eigenen Alltagserfahrungen ab.
Es ist also relevant zu wissen, ob Eckerts Fakten stimmen. Nachdem der Text von vielen Seiten vor Erscheinen mit Argusaugen betrachtet wurde, darf man getrost davon ausgehen. Aus persönlichem Spezialwissen heraus werden kleine Unschärfen entdeckt: Im Kapitel über die ostdeutschen Besitzer der Berliner Zeitung sagt er, Michael Maier habe die Funktion des Chefredakteurs übernommen, was nicht der Fall war. Maier ist seit November 2019 Herausgeber und war eine Zeitlang Vorsitzender der Geschäftsführung. Chefredakteur der Berliner Zeitung war er von 1996 bis 1998.
Und einen für den Theodor-Wolf-Preis nominierten Leitartikel der Autorin dieses Textes stellt Eckert auf den Kopf. Ich, eine Ostdeutsche, hätte mich als „Opfer“ empfunden. Das Gegenteil ist der Fall: Es handelte sich um eine Parodie auf die diversen in der Identitätsdebatte erfundenen Opfermythen.
Aber das ist Kleinkram, etwa auf der Ebene eines Tweets von Ilko-Sascha Kowalzcuk, der behauptete, ich sei als „SED-Journalistin“ in die Berliner Zeitung gekommen. Richtig ist (wenn wir schon beim Aufarbeiten sind): Ich kam 1984 als parteilose Dolmetscherin und Lateinamerikanistin mit Afrika-Expertise zur Berliner Zeitung und schrieb über das, was man damals „Dritte Welt“ nannte. In meinem SED-Parteidokument steht das Eintrittsjahr 1987 verzeichnet. Jahr drei der Reform-Ära Gorbatschow. Der Eintritt war mit dem Willen (der Illusion) verbunden, in der DDR (und der SED) an Reformen mitzuwirken. Nicht passgerecht für die Aufarbeitungsschubladen.
Gemessen am Anspruch von Wahrheit und Klarheit sieht die Bilanz nach 30 Jahren „Aufarbeitung“ unvorteilhaft aus, weil es vielen schwerfällt, sich in den Produkten der Aufarbeitungsanlage wiederzuerkennen. Politische Kräfte wie Pegida und AfD stoßen von rechts in das erzeugte Vakuum zwischen Erinnerung und nachträglich seltsam realitätsfern konstruiertem Geschichtsbild.
Rainer Eckert hatte kurz nach Erscheinen seines Buches im Interview mit der Berliner Zeitung gesagt: „Die erste Welle der Aufarbeitung ist vorbei. Diejenigen, die sie getragen haben, sind fast alles alte Menschen. Und nun setzen wir neu an mit neuen Leuten und neuen Ideen. Aber dafür muss man wissen, was bisher gewesen ist.“ Sein faszinierendes Buch hilft enorm – auch beim Aufbringen des Mutes zum Widersprechen. Und danach verlangen die krisenhaften Entwicklungen der Gegenwart täglich.
Berliner Zeitung (online), 09.11.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Aufarbeitung, Bürgerrechtler, DDR, Hubertus Knabe, Maritta Adam-Tkalec, Rainer Eckert, SED, Stiftung