Die NachDenkSeiten gelten als eines der am weitesten reichenden Online-Portale, die der „Gegenöffentlichkeit“ zum bürgerlichen Mainstream zugerechnet werden, mit (laut Wikipedia) viermal so vielen täglichen Klicks wie der linksliberale Freitag und 30 Prozent mehr als der rechtsliberale Cicero. Ihr Hauptbetreiber ist der frühere Sozialdemokrat Albrecht Müller, der unter Willy Brandt und Helmut Schmidt Planungschef im Bundeskanzleramt war. Offenbar ist er in der deutschen Medienwelt weiter gut vernetzt. Jedenfalls hatte ihm jemand ein ARD-internes „Glossar. Berichterstattung Nahostkonflikt. Zur internen Nutzung, Stand 18. 10. 2023“ zugespielt.
Ausdrückliches Ziel ist es, Kritik an Israel nicht aufkommen zu lassen. Um Fragen zur Vorgeschichte des jetzigen Krieges zu unterdrücken, heißt es: „Wir sprechen weiterhin von ‚Angriff/en aus Gaza auf Israel‘ oder ‚Terrorangriff/e auf Israel‘. Es kann aber auch ‚Krieg gegen Israel‘ verwendet werden.“ Was „unbedingt“ vermieden werden soll, sind Bezeichnungen wie „Gewaltspirale“, auch „Eskalation in Nahost“ beschreibe die Lage nicht hinreichend. Es sollte nicht euphemistisch von „Hamas-Kämpfern“ gesprochen werden, sondern ausschließlich von „Terroristen“; synonym böten sich „militante Islamisten“, „militante Palästinenser“ oder „Terrormiliz“ an. Erklärtes Ziel der Hamas sei „die Vernichtung Israels“. Dazu bediene sie sich terroristischer Mittel, so „durch das Verüben von Anschlägen, wahllosen Raketenbeschuss und ähnliches“.
Die israelische Armee dagegen soll – gemäß Glossar – als Hort der Fairness dargestellt werden. Die Hamas unterscheide „im Gegensatz zur israelischen Armee in ihren Aktionen nicht zwischen militärischen Zielen und Zivilisten.“ Die Sprachpolizisten des Glossars wussten bereits Mitte Oktober, dass bei Israels kommenden Angriffen Tausende Zivilisten ums Leben kommen werden, und machten Vorgaben, wie man das deuten solle: „Mit der mutmaßlichen harten Reaktion der israelischen Armee wird sich in den kommenden Tagen der Fokus und damit auch unsere Berichterstattung auf den Gazastreifen und das Leid der dortigen Bevölkerung verschieben“. Dazu im Glossar: „Wir sollten dabei aber nicht ausblenden, dass die Hamas den aktuellen Konflikt begonnen hat.“ Auch wenn die israelische Armee Gaza in Schutt und Asche legt, solle Zuschauern und Lesern vermittelt werden, dass immer die Hamas schuld ist: „Oft sterben dabei viele Zivilisten – die Hamas nutzt diese oft als menschliche Schutzschilde. Dennoch sollten wir stets klarmachen, dass es sich in der Regel um Angriffe auf militärische Ziele handelt.“ Der Genosse Heinz Geggel, der im Apparat des ZK der SED einer der für die Lenkung der Massenmedien der DDR zuständigen Abteilungsleiter war, hätte ein solches „Glossar“ gewiss gern mitgezeichnet.
Die allabendlichen Nachrichten in den öffentlich-rechtlichen Sendern folgen seit Wochen dem Glossar. Auch wenn notgedrungen über die infolge der israelischen Kriegsführung getöteten Kinder und Frauen im Gazastreifen berichtet werden muss, wird zunächst stets an die von der Hamas getöteten israelischen Zivilpersonen vom 7. Oktober erinnert. Gemäß den Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten waren von Januar 2008 bis August 2023 in den verschiedenen Nahost-Kriegen 308 israelische und 6540 palästinensische Todesopfer zu verzeichnen, verletzt wurden 6299 Israelis und 155.706 Palästinenser. (Das entspricht der im Blättchen 23/2023 erwähnten Überlegenheit Israels an militärischen Kräften und Mitteln.) Die Opfer-Zahlen seit dem 7. Oktober 2023 bis Mitte November (16.11.2023) weisen 1200 Tote auf Seiten Israels und 5431 Verletzte aus. In Gaza gab es zur selben Zeit infolge der israelischen Kriegsführung 11.078 Tote und 27.490 Verletzte. Der Gazakrieg seit Oktober 2023 reproduziert die asymmetrische Kriegsführung und die asymmetrische Opferzahl, die seit Jahrzehnten zu verzeichnen ist. Demgemäß ist auch die Behandlung in den deutschen staatstragenden Medien asymmetrisch: In Bezug auf Israel wird stets an die Opfer auf Seiten Israels erinnert, während die palästinensischen Toten als „Kollateralschäden“ gelten, für die nicht Israel, sondern ebenfalls die Hamas verantwortlich sei.
Die Hamas ihrerseits hat eine mehrgliedrige Führungsstruktur. Die Angriffe auf Israel am 7. Oktober hat die militärische Führung in Gaza vorbereitet und geführt. Nach Informationen von Insidern im Nahen Osten hinter dem Rücken und gegen den Willen der politischen Hamas-Führung in Doha. Die militärische Führung kalkulierte offenbar mit der harten israelischen Reaktion und wollte sie provozieren, während die politische Führung eher den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung im Auge hatte. Premierminister Benjamin Netanjahu nannte hat die israelische Kriegsführung „mächtige Rache“. Der frühere iranische Außenminister Ali Akbar Salehi sagte dazu gegenüber dem Sender Al Jazeera (Doha): „Die Israelis haben ihre Rationalität verloren.“
Selbst die westlichen Staaten, die Israel unterstützen, folgen dem nicht. International sollen eine Ausweitung des Krieges und weitere zivile Opfer verhindert werden. Die Außenminister der G7 verurteilten bei ihrem Treffen am 8. November in Tokio die Gewalttaten der Hamas, bezeichneten aber auch die Zunahme der Gewalt durch extremistische israelische Siedler im Westjordanland als „inakzeptabel“. Sie forderten humanitäre Korridore und Feuerpausen, um die Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu ermöglichen. Der „einzige Weg zu einem gerechten, dauerhaften und sicheren Frieden“ im Nahen Osten sei die Zweistaatenlösung, also die Schaffung eines palästinensischen Staates, der friedlich mit Israel koexistiert. US-Außenminister Blinken erteilte Netanjahus Gaza-Plänen eine Abfuhr. Für einen Frieden in Gaza dürfe es weder eine Vertreibung der Palästinenser noch eine erneute Besetzung des Gazastreifens geben. Zu den Voraussetzungen für einen „dauerhaften Frieden und Sicherheit“ gehöre, dass „die Palästinenser nicht gewaltsam aus dem Gazastreifen vertrieben werden, nicht jetzt und nicht nach dem Krieg“.
Die EU-Außenminister betonten auf ihrem Treffen am 13. November entsprechende Bedingungen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nannte dies „drei Jas und drei Neins“. Die Neins sind, dass erstens die Palästinenser nicht aus dem Gazastreifen zwangsumgesiedelt werden und das Gebiet des Gazastreifens nicht verkleinert wird; zweitens, dass die israelische Armee das Gebiet nicht wieder besetzt und die Hamas dorthin nicht wieder zurückkehrt; drittens, dass die Frage des Gazastreifens nicht von der Gesamtlösung des Palästinaproblems abgetrennt wird. Die drei Jas sollen sein, vor Ort Akteure zu finden, die zum Aufbau von Institutionen beitragen, arabische Länder sich an der Suche nach Lösungen beteiligen und dass die EU sich stärker in der Region engagiert.
Nachdem frühere Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch Veto der USA verhindert wurden, kam der am 15. November endlich zu einem Beschluss. Die vom Ratsmitglied Malta eingebrachte Resolution verlangt „dringende und ausgedehnte humanitäre Pausen und Korridore im gesamten Gazastreifen für eine ausreichende Anzahl von Tagen“, um humanitäre Hilfe zu gewährleisten. Die Resolution formuliert die „tiefe Besorgnis über die humanitäre Lage im Gazastreifen und ihre schwerwiegenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, insbesondere die unverhältnismäßigen Auswirkungen auf Kinder“. Alle Beteiligten werden zur Einhaltung des Völkerrechts aufgefordert, eine „Zwangsumsiedlung der Zivilbevölkerung“ wird abgelehnt, lebensnotwendige Dienste dürften den Menschen im Gazastreifen nicht vorenthalten werden.
Die USA verzichteten auf ein Veto, sie enthielten sich, wie auch Großbritannien und Russland; die anderen zwölf Ratsmitglieder – auch China und Frankreich – stimmten zu. Resolutionen des UN-Sicherheitsrates sind völkerrechtlich bindend. Israel lehnte die Resolution ab. Es wird sich dem aber nicht dauerhaft entziehen können.
Schlagwörter: Gazastreifen, Hamas, Israel, Nahost-Krieg, Peter Petras, UN-Sicherheitsrat