Die Humboldtstraße liegt ein wenig abseits des Weimarer Stadtzentrums. Wer sich dorthin aufmacht, hat zumeist nur ein Ziel: das Nietzsche-Archiv in der „Villa Silberblick“. Bei einem Rundgang durch die im März 2020 eröffnete Dauerausstellung „Kampf um Nietzsche“ erfährt man zwar alles Wesentliche zur Geschichte des Hauses und seinen Bewohnern. Wem allerdings daran gelegen ist, sich noch tiefgründiger damit zu beschäftigen, dem sei das erst jüngst erschienene, äußerst informative und reich bebilderte Begleitbuch zur Ausstellung empfohlen.
Die Geschichte des Nietzsche-Archivs reicht bis ins Jahr 1894 zurück. Elisabeth Förster-Nietzsche hatte nach ihrer endgültigen Rückkehr aus Paraguay sofort damit begonnen, alle schriftlichen Hinterlassenschaften ihres geistig umnachteten Bruders zusammenzutragen. Anfangs nutzte sie dafür das Naumburger Haus der Familie, doch bald schon waren ihr diese Räumlichkeiten zu klein und – mit Blick auf mögliche Sponsoren – nicht mehr repräsentativ genug. Durch die finanzielle Unterstützung der Schweizer Nietzsche-Verehrerin Meta von Salis war es schließlich möglich, im Mai 1897 die sieben Jahre zuvor für den Bezirksvorsteher August Meisezahl errichtete „Villa Silberblick“ zu erwerben.
Bereits kurz nachdem Elisabeth mit ihrem dahinsiechenden Bruder nach Weimar umgezogen war, begannen die ersten Umbauarbeiten an dem zweigeschossigen Backsteinbau. Die wichtigsten, das Äußere und Innere des Hauses bis heute prägenden Veränderungen hin zu einem „Gesamtkunstwerk“ gehen auf Entwürfe von Henry van de Velde zurück und kamen erst nach Nietzsches Tod zur Ausführung. So wurde in den Jahren 1902/03 im Sinne eines von ihm angestrebten „Gleichklangs von Architektur und Persönlichkeit“ die Ostfassade zum repräsentativen Eingangsbereich umgestaltet. Neu überdacht wurde auch die räumliche Gliederung von Vestibül, Speisezimmer und vor allem die Bibliothek, heute zu Recht eine der Ikonen der modernen Jugendstilarchitektur. Das Haus, respektive die Bibliothek, erfüllte seinerzeit vier Funktionen: es war wissenschaftliches Archiv und öffentlicher Salon, privater Wohnraum und musealer Ort des von Elisabeth beförderten Nietzsche-Kults.
Mehr als 30 Jahre lang war die „Villa Silberblick“ ein bedeutender gesellschaftlicher Treffpunkt des bürgerlich-intellektuellen Weimar und zahlreicher Gäste aus dem In- und Ausland. Mit Elisabeth Förster-Nietzsches Tod im November 1935 verlor das Archiv jedoch sehr schnell den Charakter eines musisch-literarisch-philosophischen Salons. Als Universalerbin übernahm die 1908 gegründete Stiftung Nietzsche-Archiv die Liegenschaft. Im Archiv selbst arbeitete man weiter an der Historisch-kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken. Auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration erfolgte im Dezember 1945 die Schließung. Damit endete die Geschichte des Nietzsche-Archivs als eigenständiger Einrichtung. 1950 verteilte man die Archivbestände auf verschiedene Institutionen; im Jahr darauf erfolgte die juristische Auflösung der Stiftung Nietzsche-Archiv. Bis heute werden sämtliche Manuskripte und Briefe Nietzsches im Goethe-und-Schiller-Archiv aufbewahrt, der Buchbestand wurde in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek eingegliedert, Mobiliar und Kunstgegenstände lagern im Museumsdepot.
Neben der Dauerausstellung zeigt die Direktion Museen der Klassik Stiftung Weimar im Erdgeschoss des Nietzsche-Archivs regelmäßig wechselnde Sonderausstellungen. In den oberen Etagen hat das „Kolleg Friedrich Nietzsche“ seinen Sitz. Ganz im Sinne seines Namensgebers versteht sich diese 1999 gegründete geisteswissenschaftliche Institution als ein Ort für „freie Geister“, als ein Ort der eigenständigen und eigensinnigen Reflexion sowie der Auseinandersetzung mit den Fragen und Problemen der modernen Lebenswelt.
Klassik Stiftung Weimar: Nietzsche-Archiv, Deutscher Kunstverlag, Berlin / München 2023, 136 Seiten, 14,90 Euro. Wer einen Blick auf Nietzsches Möbel und Haushaltsgegenstände werfen möchte, dem sei „Nietzsche privat – eine (un)mögliche Ausstellung“) empfohlen. Die außergewöhnliche Exposition läuft noch bis zum 15. Januar 2024 im Museum Neues Weimar.
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