26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Kleine „Schöpfungsgeschichte“

von Hans Leonard

Es ist schrecklich! Alle fünf oder zehn Jahre benutzt das Autoren-Kollektiv und meine Vertreterin in der Redaktion meine Abwesenheit, um feierliche Jubiläumshefte vorzubereiten. Aber so etwas ist wohl unabänderlich. Unsere Leser mögen verzeihen, wenn nun dieses Heft den Charakter einer Jubiläumsausgabe trägt.* Hoffen wir, daß sie die verschiedenen Ausführungen unserer Autoren mit Aufmerksamkeit lesen, denn natürlich haben diese rückschauend Wichtiges auszusagen. Der Jubel klingt – so glaube ich – nur verhalten durch.

Der verehrungswürdigen Frau Maud v. Ossietzky als Mitherausgeberin der Weltbühne möchte ich dafür danken, daß sie mich vor gut 15 Jahren „zwang“, ihrem Wunsche nachzugeben, das „Blättchen“ mit ihr zusammen wieder herauszubringen. Es wäre unaufrichtig, wollte ich verschweigen, wieviel Freude und Lebensmut nach der zwölfjährigen dunklen Nacht des Faschismus mir diese Aufgabe verschaffte. Das verdanke ich auch dem mir Freund gewordenen, zu früh dahingegangenen Erich Weinert, der meine ersten Schritte als Redakteur der Wb lenkte. Manchen Lehrer hat die wiedererstandene Weltbühne 1946 gehabt: nicht nur erfahrene Publizisten und Politiker, wie Alexander Abusch und Albert Norden; vor allem bleibt unvergessen die Hilfe, die der Weltbühne von sowjetischer Seite zuteil wurde.

Allmählich bildete sich ein immer zahlreicher werdender Kreis alter und neuer Autoren, der im Sinne Ossietzkys den von der Tradition des Blättchens sich bedrückt fühlenden Herausgebern und Redakteuren half, die Weltbühne für so manchen, der sie wollte, lesenswert zu machen.

Ich denke, es erübrigt sich, die zahlreichen Namen aufzuzählen, die dem Blättchen das Gesicht geben. Ein Teil unserer Autoren hat zu dieser Jubiläumsausgabe einiges beigetragen, das den ganzen Ernst unseres gemeinsamen Kampfes andeutet. Ohne die Leistungen unserer Mitarbeiter gäbe es wohl kaum Gelegenheit, auf 15 Jahre Weltbühnenarbeit zurückzublicken.

Wie war das doch damals? Im Frühsommer 1945, als wir alle aus irgendwelchen Kellerlöchern hervorkrochen, in denen wir, physisch oder psychisch blessiert, überlebt hatten, und als sich das Leben wieder regte, arbeiteten wir alle irgendwo, meistens da, wo es notwendig war anzupacken.

Der sozialdemokratische Pressedienst in Westdeutschland erwähnte einmal vor vielen Jahren die Tatsache, daß der Mitherausgeber der Weltbühne von 1946 nur ein kleiner Angestellter gewesen sei. Ein merkwürdiger Vorwurf seitens einer Partei, die vorgibt, Sachwalterin der „Arbeitnehmer“ zu sein. Ich bin stolz darauf, niemals Unternehmer gewesen zu sein.

Wenig bekannt ist es, daß Frau Maud v.Ossietzky, gebürtige Engländerin, zunächst eine britische Lizenz zur Herausgabe der Weltbühne erwirkt hatte. Gemeinsam versuchten wir, daraus das Beste
machen. Doch bald wurde klar, daß sich die britische Kontrollkommission eine Weltbühne vorgestellt hatte, die helfen sollte, jene Politik zu unterstützen, die Ossietzky und Tucholsky hinreichend als außen rot und innen weiß gekennzeichnet hatten. Wir aber wünschten, sozialistische Konsequenzen aus den Erkenntnissen zu ziehen, zu denen unsere großen Vorbilder gelangt waren.

Als trotz der im Dezember 1945 erteilten Lizenz die britische Militärregierung bis zum Mai 1946 immer noch kein Papier zur Herausgabe der Weltbühne zur Verfügung gestellt hatte, obwohl gleichzeitig so manches, nun sagen wir gelinde: „konservatives“ Blatt auf schönstem Papier fröhliche Auferstehung feierte, wurde uns klar, wohin die Reise gehen sollte. Man veranlaßte uns, mit dem unter amerikanischer Lizenz arbeitenden „Deutschen Verlag“ die Herausgabe der Weltbühne in die Wege zu leiten. Als uns dann aufgegeben wurde, das Manuskript der Weltbühne Nr. 1 ausgerechnet in der Babelsberger Straße (Westberlin), wo der „Telegraf“ erschien, dem Zensor Peter de Mendelsohn vorzulegen, als dann die Briten plötzlich eine Verfälschung des Namens Weltbühne wünschten – also nicht nur des Inhalts im sozialdemokratischen Sinne –, beschlossen die Herausgeberin, Erich Weinert und ich, dieses Spiel nicht mitzumachen.

Den britischen Intrigen mußte mit List begegnet werden: Es gelang mir, eine Druckerei im sowjetischen Sektor von Berlin zu finden, die, nur gestützt auf ihre Druckerlizenz, die erste Ausgabe der Weltbühne druckte. Dieses Heft mußte, unauffällig und überstürzt, innerhalb von 24 Stunden, neu zusammengestellt werden. Auf eigene Verantwortung, ohne jede Hilfe bei diesem Unterfangen, das mir einen Verweis der Besatzungsbehörden eintrug, stellte ich das Heft Nr. 1 zusammen, das natürlich alle Merkmale der Unfertigkeit trug.

Am 4. Juni 1946, in den frühen Morgenstunden, wurde die Weltbühne herausgebracht. Als Erscheinungsort war meine damalige Privatwohnung verzeichnet. Gegen 9 Uhr morgens desselben Tages wurde der britischen Kontrollkommission in der Klaus-Groth-Straße Berlin-Charlottenburg ein Schreiben Maud v. Ossietzkys ausgehändigt, mit welchem sie dankend auf die britische Lizenz verzichtete. Die britischen Kontrolloffiziere waren sehr böse. Nun, das kann man verstehen. Wahrscheinlich hatten sie zu viel Umgang mit allerhand servilen, ein neues, ein antifaschistisches Mäntelchen tragenden Nazi-Journalisten gehabt. Anscheinend glaubten sie, es gäbe nur solche.

Der Auszug des Verlages aus dem britischen Sektor von Berlin mußte heimlich, am Abend vor dem Erscheinen der Weltbühne Nr. 1 erfolgen. Ein paar Arbeiter halfen dabei, obwohl sie von der Tagesarbeit gerade erschöpft zurückgekehrt waren. Die wenigen Angestellten des Verlages waren sehr erstaunt, als sie am nächsten Morgen vor den leeren Räumen am Lützowufer 10 standen und dort erfuhren, daß sich ihre Arbeitsstätte nunmehr in der Mohrenstraße befand.

Nach Erledigung einer britischen Beschwerde im Kontrollrat über die Eigenmächtigkeit der heutigen Herausgeber der Weltbühne stellten wir einen Antrag bei der Sowjetischen Militär-Administration, in dem wir um Erteilung einer Lizenz baten. Wir taten keine Fehlbitte. Daß die Weltbühne wieder auferstehen konnte, ist vor allem der Einsicht derjenigen zu verdanken, die vielen Millionen Menschen, also auch uns, die Befreiung vom lebenbedrohenden Nazismus gebracht hatten.

Unsere Arbeit gilt der Freundschaft mit allen Völkern, besonders mit jenen, die in diesem Befreiungskampfe so unendlich viele Opfer bringen mußten. Dieser Aufgabe in der Deutschen Demokratischen Republik dienen zu können, mit der sie führenden Arbeiterklasse und ihrer Sozialistischen Einheitspartei verbündet, ist uns Herzensbedürfnis.

 

* – Weltbühne, 22/1961 (Jubiläumsheft anlässlich des 15. Jahrestages des Wiedererscheinens der Weltbühne). Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.

 

Hans Leonard war von 1946 bis 1966 Chefredakteur und Verleger der Weltbühne.

 

Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, mögliche Inhaber der Rechte an den Weltbühne-Publikationen von Hans Leonard zu ermitteln. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.