Archäologen, Historiker und Kriminalisten (als „archäologische Polizisten“) haben im Grunde die gleiche Herangehensweise: Anhand der ermittelten materiellen Quellen und Gegenstände, Dokumente, im weitesten Sinne Spuren und Aussagen, Versionen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit darüber anzustellen, was sich in der Vergangenheit warum, wie und wo ereignete und wer die Akteure mit welcher Verantwortung waren.
Die Archäologin Claudia Maria Melisch und die Historiker Ines Garlisch und Jörg Feuchter beantworten in ihrem Buch überzeugend die Frage, wer die ersten Berliner waren. Es ist eine Auseinandersetzung mit der fernen Vergangenheit, wie sie eben Archäologen und Mittelalterforscher betreiben.
Warum dieser Aufwand? Der Geschichtswissenschaftler Ernst Schubert gibt in der Einleitung eine sehr überzeugende Antwort: „Die Geschichte war nie dazu nutze, Rezepte für die Gegenwart zu liefern, ihre Aufgabe liegt in der Präzisierung der gegenwärtigen zentralen Fragen, indem sie diesen Fragen nicht nur in ihrem Werden, sondern auch in ihren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen nachgeht. Das kann nie zu einer direkten Ableitung der Gegenwart aus der Vergangenheit führen, sondern zu einer Art Dialog mit den nunmehr toten Menschen, die in ihrer Gegenwart ebenfalls Antworten auf die gleichen Grundsatzfragen finden mussten.“
Die Autoren prüfen althergebrachte, aber fragwürdig gewordene Erzählungsrahmen zur Entstehungsgeschichte von Cölln und Berlin. Es gibt keine Gründungsurkunden, so dass die ersten urkundlichen Erwähnungen von Cölln (1237) und Berlin (1244) für alle bisherigen Jubiläen herhalten mussten. Noch aus Anlass der 775-Jahrfeier der Stadt Berlin im Jahr 2012 wurde der Fokus nur auf die ersten Siedler von Berlin und Cölln gelegt, die Rheinländer, Westfalen und Flamen waren. Die Autoren weisen auf den Mythos der „Ostkolonisation“ hin, bei der kulturell überlegene, agile „Deutsche“ auf eine passiv-primitive slawische Bevölkerung trafen, oder auf das Narrativ von einer radikalen Verdrängung der einheimischen Slawen durch eine kriegerisch vollzogene Landnahme.
Was andersherum heißt, dass die ersten Berliner natürlich auch Slawen waren, die schon immer hier lebten. Nur so ist der slawische Einfluss auf Orts- und Gewässernamen (Havel, Spree und Dahme) zu erklären, und der Stadtname Berlin geht auf das slawische Wort -bri (berlo) für Sumpf oder sumpfige Stelle zurück. „Das ist ein starkes Indiz dafür, dass es eine gewisse Kontinuität zwischen vorslawischer und slawischer Bevölkerung gegeben hat, weil ansonsten diese Namen nicht hätten weitergegeben werden können“, heißt es in dem Buch. Der Begriff des Sklaven, was kaum jemand weiß, kommt bezeichnenderweise nicht aus dem Lateinischen, sondern von der mittelalterlichen griechischen Bezeichnung für Slawen auf dem Balkan.
Die Ergebnisse der archäologischen Ausgrabungen der letzten Jahre lassen den Schluss zu, dass der Siedlungsbeginn und damit der Ursprung Berlins um 1150 zu datieren ist. Die Autoren räumen mit dem Irrglauben auf, dass es eine Doppelstadt Berlin/Cölln gab. Die gab es nie. Es gab eben nur Cölln und Berlin beiderseits des Flusses Spree. Sie entstanden nicht allmählich und ungeplant aus bäuerlichen Siedlungen.
Aber archäologische Überlieferung ist nur eine Seite. Was im Boden überdauert und dann auch gefunden wird, ist dem Zufall geschuldet. Viele historische Ereignisse wie politische Entscheidungen oder der alltägliche Handel auf dem Markt hinterlassen keine archäologischen Spuren. Das Buch fügt somit die Ergebnisse beider Forschungen, Archäologie und Geschichtswissenschaft, zusammen, und erst in diesem Komplex wird die Entwicklung Berlins verständlich und greifbar.
Im Kapitel zur mittelalterlichen Stadtgesellschaft wird ausführlich über Verbrechen und Strafe berichtet, die oft auch Todesstrafe bedeutete. Zwischen 1399 und 1448 sollen nicht weniger als 101 Menschen hingerichtet worden sein, d. h. zwei im Jahr, und das bei nur einigen Tausend Einwohnern. Todesstrafen gab es für Bagatelldelikte, worüber das Berliner Stadtbuch berichtet. So wurde 1412 eine Frau lebendig begraben, „weil sie das Kleid von Claus Domes gestohlen hatte“.
Fast revolutionär ging es beim „Berliner Unwillen“ ab 1442 zu. Die Bürgerschaften von Cölln und Berlin, an der Spitze die Bürgermeister Thomas Wins und Bernhard Ryke, lehnten sich gegen die Herrschaft von Kurfürst Friedrich II. auf, der ihnen Rechte entziehen wollte. Der Aufstand scheiterte, und heute erinnern nur noch zwei Straßennamen (Winsstraße und Rykestraße) im Prenzlauer Berg an die beiden Bürgermeister.
Die Autoren gehen mahnend auf den Berliner Hostienschändungsprozess von 1510 ein, in dessen Ergebnis alle Juden aus der Mark Brandenburg vertrieben wurden. In Berlin fand ein Schauprozess gegen völlig Unschuldige statt, die so lange gefoltert wurden, bis sie ihre Beteiligung an dem Hostiendiebstahl in Bernau und den angeblichen Gräueltaten an deutsche Kinder gestanden. Der Prozess endete mit der Verurteilung und anschließenden Ermordung einer ungesicherten Zahl von 35 bis 52 Juden.
Abschließend lesen wir im Buch, dass es nach dem französischen Mediävisten Marc Bloch eine krankhafte Besessenheit der Historiker sei, stets nach den ersten Anfängen eines Phänomens zu suchen und diesen dann eine besondere Bedeutung für dessen spätere Entwicklung zuzuweisen. Aber so wichtig der Anfang auch sein mag, Stadtgeschichte ist immer offen, denn an vielen Wendepunkten, wie etwa beim „Berliner Unwillen“, hätte es mit der Stadt ganz anders weitergehen können. Darauf hatte schon Jens Bisky 2018 in seinem Buch „Berlin – Biografie einer großen Stadt“ aufmerksam gemacht.
Jede Geschichte ohne Anfang ist aber unvollständig, weshalb in diesem sehr flüssig geschriebenen und für den Laien verständlichen Werk eben die Anfänge der Stadt in den Mittelpunkt gestellt werden.
Und wer waren nun die ersten Berliner? Lesen Sie selbst und finden Sie es heraus. Es lohnt sich.
Claudia Maria Melisch und andere: Die ersten Berliner. Leben an der Spree zwischen 1150 und 1300. BeBra Verlag, Berlin 2023, 205 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Archäologie, Berlin, Claudia Maria Melisch, Cölln, Frank-Rainer Schurich, Slawen