26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Wem gehört die Ukraine?

von Detlef Jena

Der ukrainische Präsident Selenskyj sowie Spitzen von EU und NATO schwören darauf, dass die Ukraine aus dem Angriffskrieg Russlands als politischer und militärischer Sieger hervorgeht. Sie soll ein in sich gefestigter demokratischer Staat werden – ein glänzender Stern der Europäischen Union, sogar eine mächtige Waffenschmiede der NATO – gegen Russland. Das ist ein mehr als unsicherer Wechsel auf die Zukunft. Jeder seriöse Geschäftsmann weiß, dass finanzielle und politische Abhängigkeit im besten Falle Missbrauch und Missgunst erzeugen. Die Ukraine ist in hohem Maße finanziell, politisch und militärisch von der EU und der NATO abhängig: Alle der Ukraine ab 2023 geborgten Gelder müssen nach 2033 zurückgezahlt werden.

Ein unabhängiger ukrainischer Staat entsteht und wächst jedoch als marktkonforme Demokratie weder durch einen siegreichen Krieg über Russland noch durch milliardenschwere Investitionen und Waffenlieferungen ausländischer Mächte. Er kann nur aus dem Innern seines Volkes und dessen Geschichte existieren. Es ist zudem völlig unklar, wie Russland politisch und militärisch gezwungen werden kann, den Krieg zu beenden. Es gibt lediglich einige historische Erfahrungen, die besagen, dass kein Krieg auf dem Boden der Ukraine je dazu führen konnte, das seit dem Mittelalter gewachsene autokratische System Russlands im westlichen Sinne zu demokratisieren. Die europäischen Mächte haben es immer wieder lernen müssen, ihre eigenen machtpolitischen Interessen mit denen Russlands in Kompromissen auszugleichen. In der sich heute wandelnden Welt, die in großen Teilen nicht mit den Kriegszielen der EU und der NATO in der Ukraine konform geht, würde der Versuch, mit einem ukrainischen Sieg das Russländische Reich aufzuspalten und von außen radikal-demokratisch zu reformieren, unweigerlich im Weltenbrand enden.

So wie Russland über Jahrhunderte autokratisch gewachsen ist, kann sich auch die Ukraine nicht aus ihrer Geschichte lösen – schon gar nicht nach einem Sieg mit westlichen Waffen. 1991 entschloss sich das multinationale Volk der Ukraine, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Am 1. Dezember sprachen sich in einer Volksabstimmung 90 Prozent der wahlberechtigten Bürger für die Lostrennung von der ohnehin zerfallenden UdSSR und für einen unabhängigen Staat Ukraine aus. Der schillernde europäische Markt winkte verlockend.

In den nachfolgenden Jahren haben sich nur wenige der Hoffnungen erfüllt. Das Land ist dem Westen kaum einen Schritt näher gerückt, der materielle Wohlstand ist ausgeblieben, und die Demokratie orientiert sich am quasidemokratischen präsidialen Moskauer Vorbild. Das Land ist unter der Verantwortung des Präsidenten Kutschma in eine wirtschaftliche, finanzielle und soziale Existenzkrise manövriert worden. Seit 1994 ist das Bruttoinlandsprodukt um 25 Prozent gesunken. Die Auslandsverschuldung erreichte 12,4 Milliarden US-$ und überstieg damit den gesamten Staatshaushalt von 5,5 Milliarden US-$ um das 2,5-fache. Nur durch eine Neuverschuldung konnte die Zahlungsunfähigkeit der Ukraine aufgeschoben werden. Die Zahl der Arbeitslosen war kaum noch ermittelbar. Nach 1994 ist die Bevölkerung der Ukraine um 1,5 Millionen Menschen ärmer geworden. Wirtschaftliche Misserfolge und Defizite gingen mit einem Mangel an demokratischen Inhalten und Strukturen Hand in Hand. Das Land war zwar mit einem dichten Parteiensystem gespickt – von den Kommunisten bis zu Ultranationalisten, die Parteien stützen jedoch in erster Linie Einzelpersonen und vertreten weniger soziale Gruppeninteressen. Kutschma schuf ein politisches System, in dem korrupte Staatsdiener und „Diebe im Gesetz“ eine Symbiose eingingen, die jegliche demokratische Reform verhinderte. Unabhängige Zeitungen und Journalisten wurden verfolgt. Der Lobbyismus bestimmter Clans und „Holdings“ beherrscht mit Vetternwirtschaft das wirtschaftliche und staatliche Leben des Landes.

Die Ukraine hatte die Chance zur demokratischen Unabhängigkeit in Europa in jenen Jahren nicht einmal aufgegriffen. Die Suche nach den historischen Ursachen für das Debakel lässt erkennen, dass der vollständige Mangel an parlamentarisch-demokratischen und eigenstaatlichen Traditionen vor und während der Sowjetmacht, die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, die seit Jahrhunderten gezüchtete nationale Gemengelage, die militante Aggressivität auf dem Rücken ukrainischer Gläubiger ausgetragener Kirchenschlachten und der nationalistische Hader ungebremst fortwirken. Vor 1917 hat das Russische Reich die Ukraine aus St. Petersburg regiert. Nach 1917 hat die Sowjetmacht die Ukraine von Moskau aus beherrscht. Nach 1991 regieren Familienclans von Kiew aus in einer Weise, die gegenüber der mittelalterlichen Kiewer Rus einen Rückschritt bedeutet, denn die Kiewer Rus war ein modernes mittelalterliches Reich mit dynastischen und Handelsverbindungen nach ganz Europa.

Auf dem Weg der letzten Jahre fortzufahren bedeutete, dass dieser Staat eines Tages wieder von der Russländischen Föderation geschluckt werden würde, die noch zu keinem Zeitpunkt einen Nachbarn an ihren westlichen Grenzen geduldet hatte, der ihr als Risiko für die eigene Großmachtrolle erschienen war.

Dann kam 2013 der Maidan-Aufstand, dem im Februar 2014 die russische Annexionen in der Ostukraine und bis auf die Krim folgten. Für jeden Staat wären die hohen Erwartungen des Maidan und der Reformprozess große Herausforderungen gewesen – für die Ukraine kam seit 2014 erschwerend der Krieg im eigenen Land hinzu. Dieser verlangte von der Regierung zeitliche, personelle und materielle Ressourcen, engte den sozialpolitischen Diskurs ein und setzte neue außenpolitische Akzente. So wurde die Aufrüstung und Modernisierung der ukrainischen Armee zur Priorität, wie auch die nun als Frage der nationalen Sicherheit definierte Bildungs- und Sprachpolitik. Der Krieg diente dem Präsidenten auch als Erklärung für ausgebremste demokratische Reformen – ein Argument, auf das westliche Regierungen zu wenig kritisch reagierten.

Russlands Aggression seit Februar 2022 hat den ganzen Prozess radikal unterbrochen. Und die Zukunft? Ein künftiger Frieden wird den historischen Faden wieder aufnehmen müssen – unter völlig veränderten nationalen und internationalen Gegebenheiten

Die Völker der Welt ersehnen den Frieden in der Ukraine, aber nicht nach den Interessen von EU und NATO. Doch deutsche Politiker drängen danach, dass das vereinigte Deutschland wieder eine Großmachtrolle in der Welt spielt. Allein, im Innern Deutschlands steigt die Zustimmung für die Partei der Alternative, die im Rahmen eines isolationistischen Nationalismus den radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel fordert, bis hin zum Ausgleich mit Russland. Der auf den Konsumrausch gedrillte Bürger besitzt leider ein auf Verkauf verkürztes Geschichtsbild und erkennt nicht einmal mehr die damit verbundenen Fallstricke.

Die regierenden Parteien und Politiker stehen diesem Phänomen nahezu hilflos gegenüber. Kompromisse in der Migrationspolitik dämpfen lediglich eines der Krisensymptome. Selbst die militante deutsche Außenministerin erkennt zwar den engen Zusammenhang zwischen der Korruption in der Ukraine und deren historisch gewachsenen strukturellen Ursachen. Sie rettet sich in die ausweichende Bagatellformulierung, da sei noch ein „dickes Brett“ zu bohren. Auffällig ist auch, dass die politischen Treueschwüre der Bundesminister an die Ukraine neuerdings mit dem schmückenden Zusatz versehen werden „so lange wie nötig“. Doch was und wer legen fest, wie lange es nötig ist, weitere Waffen und Gelder in die Ukraine zu pumpen? Eine befriedete Ukraine wird sich auch als Mitglied von EU und NATO im Innern auf Grund ihrer Geschichte auf autokratische Traditionen stützen müssen, ist aber finanziell bis in die Ewigkeit im Westen verschuldet. Und vor allem: Russland wird es nicht dulden, dass an seiner Westgrenze eine geschlossene NATO-Front vom Nordpolar- bis zum Schwarzen Meer existiert. Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet und nicht erst seit dem Februar 2022, sondern seit den Livländischen Kriegen im 16. Jahrhundert. Und nicht einmal der Geist von Hamlets Vater ist in Sicht: „Die Zeit ist aus den Fugen; / Fluch der Pein, / Muß ich sie herzustelln geboren sein!“