26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Vom Eisenbahnersohn zum Tucholsky-Kenner

von F.-B. Habel

Nun ziehen Sie erstmal Ihre Hose aus“, wurde der junge Germanist Ian King aus Glasgow, kaum, dass er das Haus betrat, in Rottach-Egern von der älteren Dame aufgefordert. Sie hatte einst sein Idol Kurt Tucholsky geliebt. King erzählte schmunzelnd von seiner ersten Begegnung mit Mary Gerold-Tucholsky, denn er war auf dem Weg zu ihr in einen Wolkenbruch geraten und völlig durchnässt.

Humor und Ironie waren Merkmale, die ihn mit Tucholsky verbanden. Stolz war er darauf, dass es der 1949 geborene schottische Eisenbahnersohn zum Universitätsdozenten und in Großbritannien wie auch Deutschland zum angesehenen Forscher über einen der wichtigen deutschen Autoren gebracht hatte. Sein geschichtliches Interesse, sein Gefühl für Gerechtigkeit gegenüber den sozial Unterprivilegierten führten ihn dazu, sich intensiv mit Tucholsky zu beschäftigen. Bei einer Tagung im Internationalen Haus Sonnenberg im Harz konnte er sich mit den Zielen des Sonnenbergkreises, die auf Völkerverständigung ausgerichtet waren und sind, identifizieren. Auch in diesem Kreis stellte er Tucholsky als Kriegsgegner und Antifaschisten vor.

Ian King zählte aufgrund seiner Expertise 1988 zu den Gründungsmitgliedern der Kurt Tucholsky-Gesellschaft. Damals wirkte er in Sheffield, wurde kurz darauf für 33 Jahre ein Londoner. Als in Weiler im Allgäu 1998 das zehnjährige Jubiläum der KTG gefeiert wurde, lernte ich ihn als ebenso klugen wie humorvollen und lebenslustigen Mitstreiter kennen. Damals leitete Michael Hepp die Gesellschaft. Außerordentlich schätzte King den gleichaltrigen Literaturwissenschaftler, der eine bis heute gültige Tucholsky-Biografie veröffentlicht hatte, und der vor 20 Jahren an einer Krebserkrankung starb. Wie Hepp auch beteiligte sich King an der Herausgabe der Tucholsky-Gesamtausgabe im Rowohlt-Verlag.

Aus der KTG kannte Ian King den früheren Weltbühne– und späteren Blättchen-Autor Jochen Reinert. Der vermittelte ihn vor 30 Jahren als Kommentator an das damalige Neue Deutschland. Es ist wenig bekannt, dass Tucholsky zeitweise Mitglied der USPD und der SPD war. King war ein linker Parteigänger der Labour Party, und wie Tucho die SPD besonders ironisch behandelte, so tat es Autor King mit Labour im nd, für das er bis Anfang September 2023 zahllose oft sarkastische Beiträge lieferte.

In der KTG brachte es der Brite Ian King zum Vorsitzenden, und er war in vielen Einschätzungen seinen deutschen Kollegen voraus. Als er das Amt vor zwei Jahren niederlegte, wurde ihm als Erstem der Titel Ehrenvorsitzender verliehen, und als solcher mischte er sich bis zuletzt in die Planungen ein. Er konnte sich damit durchsetzen, dass in diesem Oktober nicht – wie angedacht – über Sichten von Frauen und Männern zu streiten, sondern angesichts des Krieges im Osten zu fragen: „Ist Tucholskys Verständnis von Pazifismus heute noch aktuell?“

Er hatte vor, einen Tagungsvortrag zu halten, aber angesichts seiner Krebserkrankung sandte er seinen Text rechtzeitig an uns. Nun werde ich ihn in seinem Angedenken verlesen.

Im September hat Ian King uns verlassen.

Er wird schwer, vielleicht gar nicht zu ersetzen sein.

 

Unser Autor ist in Nachfolge von Dr. Ian King Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.