26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Deutsches Theater, 141. Spielzeit, Start in die neue Saison. Und Beginn einer neuen Intendanz mit „Weltall Erde Mensch“ – “Prima Facie“ – „Baracke“ / Post Scriptum: Betreffs Moissi.

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Weltall Erde Mensch“: Kosmonauten-Spiele mit Langhaar-Apfelsinen 

Noch eine Zeitenwende: Mit Beginn der 141. Spielzeit hat das DT erstmals in seiner großen Geschichte eine Frau an der Spitze: Iris Laufenberg, ein Kölsches Kind, sehr erfahren (Bonner Biennale, ein Jahrzehnt Chefin des Berliner Theatertreffens, dann Intendantin in Bern, zuletzt in Graz) und also bestens vernetzt im deutschen Sprachraum. Sie hat sich nicht bewerben müssen für diese berühmt erstklassige Position, sondern ist gefragt worden, erwählt von der zuständigen Politik.

Nun also Berlin, Berlin! Da ist klar: Für den Neustart im höchst subventionierten, teuersten Hauptstadt-Schauspiel muss Spektakuläres her. Da muss man klotzen mit einer Uraufführung. Und nach Höchstem, möglichst Allumfassenden greifen: Nach nichts weniger als „Weltall Erde Mensch“.

Alteingesessenen Ostberlinern mag dieser Titel der Spielzeiteröffnung bekannt klingen. Bezieht er sich doch auf ein die Geschichte und Zukunft der Menschheit erklärendes 500-Seiten-Buch, das in den 1960er und 70er Jahren zur DDR-Jugendweihe nebst den Blümchen überreicht wurde; quasi als revolutionäres Gegenstück (mit Widmung von Walter Ulbricht) zur Konfirmanden-Bibel.

Dem kurzen Blick zurück folgt der große in die Zukunft: Wir befinden uns „nach Beendigung aller kalten Kriege und dem „Sieg des Sozialismus“ in einer DT-Jugendweihfeier anno 3023 und sind erstaunt, dass es die in tausend Jahren noch immer gibt. Dafür sorgt Alexander Eisenach (Jahrgang 1984), Autor und Regisseur der Veranstaltung, die einlädt zur „lustvollen Expedition ins Ungewisse, um alternative Wirklichkeiten zu suchen und neue Paralleluniversen zu erforschen“. So die Ansage für seine Science-Fiction-Show.

Doch der vielversprechend geplante, dramatisch erhellende Kurzschluss von Gegenwart und Utopie verliert sich auf sinnlos kreiselnder Bühne in den Weiten des Weltalls. Da geistert ein zehnköpfiges Ensemble, verpackt in hässliche, poppig gemeinte Plastik-Klamotten, vier Stunden lang theatralisch unorganisiert von Paralleluniversum zu Paralleluniversum.

Um die Zeit totzuschlagen, liefern die komischen Kosmonauten ein Wirrwarr von zeitgeistig gefärbtem Geschwafel: über Geschlechterkampf, Feminismus, Sexualität, Dildos, Besitzverhältnisse, Kapitalismus, Relativität sowie Wahrscheinlichkeit und noch dazu Unsterblichkeit. Uff! Wir verlieren die Übersicht; erkennen aber als gebildete Jugendweihlinge einige Quellen des im krampfenden Blödel-Modus rasend monologisch vorgetragenen Palavers: etwa den polnischen SF-Romancier Stanislaw Lem oder die amerikanische Feministin Joanna Russ („Planet der Frauen“).

Zwischendurch wird bisschen Musik gemacht, passieren spaßige Not-Operationen mit künstlichen Organen (Echtherz raus, Kunstherz rein) oder man setzt – Überraschung! – ein neues matriarchalisches „Narrativ“ in die Galaxis: Es beschreibt das Aus fürs maskulin heldische Jagen mit bösem Speer zugunsten feminin unheldischen Sammelns mit gutem Beutel. Aus dem wiederum kullern flauschig langhaarige Riesenapfelsinen für neckische Spielchen. Dazu der Kommentar eines der Weltall-Ritter: „Aber auch das bedeutet nichts.“

Was für ein Fehlstart beim Intendantenwechsel. Dabei hat Iris Laufenberg gewusst, dass ihr Favorit Eisenach, ein sympathischer Mann mit reichlich Grips und noch mehr Fantasie, bislang erstaunlicherweise wenig Glück hatte bei der Realisierung seiner konzeptionell durchaus schillernden Projekte auf den Brettern von Volksbühne oder Berliner Ensemble. Trotzdem ging Laufenberg voll Hoffnung ins Risiko. Und beide fielen auf die Nase. Man fragt sich aber auch, ob die opulente DT-Dramaturgie etwa noch nicht recht arbeitsfähig war.

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„Prima Facie“: Feministisches Manifest 

Es kann also nur besser werden! – Doch nicht sofort. Denn die zweite Premiere „Prima Facie“ (heißt in etwa „Nach erstem Anschein“) war als deutschsprachige Erstaufführung eine total gut gemeinte, total wichtige, doch leider total plakative Me-Too-Geschichte der gegenwärtig weltweit viel gespielten australischen Autorin Suzie Miller. Ein feministisches Manifest gegen das maskulin geprägte Gerichtsmilieu. Ein Monolog voller Klischees. Freilich mit gelegentlich irritierenden, ja bestürzenden Einblicken ins Zwielicht und Dunkel der juristischen Auseinandersetzung zwischen weißem sexuellem Gewalttäter (ein prominenter Top-Anwalt) und traumatisiertem schwarzem Vergewaltigungsopfer (seine Kollegin, eine prominente Top-Anwältin namens Tessa).

Die in Kenia geborene Schauspielerin Mercy Dorcas Otheno spielt diese Figur mit starker Empathie unter präzis minimalistischer Regie von András Dömötör. Seltsamerweise gibt uns Tessa nach all ihren demütigenden Erlebnissen den Wunsch auf den Weg, dass sich im Gerichtswesen „irgendwo, irgendwann, irgendwie, irgendwas“ ändern müsse. – Eine Binse als Schlusswort …

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„Baracke“: Bisschen Liebe und höllischer Hass 

Es heißt, die Familie sei die Keimzelle der Gesellschaft. Im uraufgeführten Stück „Baracke“ von Rainald Goetz, der Nummer drei im DT-Startpaket, ist die Familie zugleich Keimzelle für den Hass, dem wiederum, zumindest bei Goetz, die Liebe vorauseilt.

Und so singt denn der Büchner-Preisträger (2015) zunächst ein hübsches Hohelied der Liebe. Um alsbald sprachgewaltig abzutauchen in höllische Abgründe, in die besagt himmlische Gefühle und familiäre Glückseligkeiten fatalerweise zu stürzen belieben unter toxischer Mitwirkung gewalttätigen Hasses. Das alles in genialisch assoziativen Volten. In einer tollkühn schlagenden, zuschlagenden Collage aus komisch-grotesken Kurzszenen, sarkastischen Reflexionen und Thesen, poetischen Bildern und Blitzlichtern. Dabei werden vom gegenwärtigen Zeitgeist untermalte Hysterien bloßgestellt. Oder eine in Hass entartende Dreiecksgeschichte angerissen, die sich in den 1990er Jahren abspielte: Zwischen einer Bea, einem Uwe und einem Ramin aus Krölpa in Thüringen. Die Aggressionen dieses Trios infernal griffen alsbald tief ins Gesellschaftliche, endeten im mörderischen Terror. Schließlich findet man sich – das finale Tableau in gespenstisch bürgerlicher Maske – wieder im Idyll des Grauens einer feinen Villa am hübschen Elbhang zu Dresden.

Ein geradezu hellsichtig wahnsinniger Rundumschlag aus durcheinander geschüttelten szenischen Bruchstücken, deren philosophische, politisch-historische oder tiefenpsychologische Anspielungen es in sich haben. Aufs Ganze gesehen: Eine bitterböse Skizze eines beängstigenden, doch auch lachhaften deutschen Gemütszustands. Den die schweizerische Regisseurin Claudia Bossart mit erstaunlicher Leichtigkeit und aberwitziger Fantasie über die Bühne wirbelt. Obendrein fügt sie – Überraschung! – das Disparate der Vorlage mit theatralischer Kraft und einem besessen spielerischen Ensemble schlüssig zusammen. Zu einem faszinierenden, einem großen Theaterabend.

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P.S.: Betrifft „Moissi“ 

Themenwechsel: Da flattert eben eine Mail in den Laptop. Kommt von der langjährigen DT-Schauspielerin Simone von Zglinicki. Mit Gruß und „kleinem Fingerzeig“ – auf Bettina Moissi-Berggruen.

Sie ist die Tochter von Alexander Moissi (1879-1935), der von Max Reinhardt 1903 ans DT geholt und dort zum absoluten Superstar aufstieg. Zum, so die Akten, berühmtesten Schauspieler im deutschsprachigen Raum (an seinem Wohnhaus Kantsraße 75 erinnert eine Gedenktafel).

Von Zglinicki verwies in diesem Zusammenhang auf die „Unordentlichen Erinnerungen“ der Elisabeth Bergner. Da schwelgt das DT-Ehrenmitglied in Bewunderung für den Papa von Bettina, die im Film reüssierte und zuerst den Porzellanfabrikanten Philip Rosenthal, später, 1959, in zweiter Ehe den Kunsthistoriker Heinz Berggruen heiratete – das nebenbei.

Doch zurück zum Fingerzeig – er signalisiert ein Datum: den 15. Oktober! Denn am 15. Oktober anno 1923 wurde Bettina Moissi-Berggruen in Berlin geboren. Mithin wird sie, so Gott will, in sechs Tagen, ihren 100. Geburtstag feiern. Wir lassen beide hochleben: Bettina und – seligen Angedenkens – Alexander Moissi.