Bei den Olympischen Winterspielen 1984 in Sarajevo setzte sich das Ländchen DDR erstmals an die Spitze des Medaillenspiegels eines solchen sportlichen Großereignisses. Katarina Witt, Jens Weißflog oder Karin Enke gehörten damals zu den Siegern. Gleich doppeltes Gold errangen Wolfgang Hoppe und Dietmar Schauerhammer mit ihrem Bob auf dem Berg Trebević. Fast vierzig Jahre später, im Spätsommer 2023, war es für mich ausgesprochen bedrückend, an dieser einstigen Stätte sportlichen Jubels zu stehen. Die Zuschauertraversen sind überwuchert, die Startrampe, von der Steffi Walter aus Oberwiesenthal und der Italiener Paul Hildgartner zu ihren Goldfahrten im Rodeln starteten, ist abgebrochen und der Eiskanal, in dem Hoppe mit seinem Partner so erfolgreich war, schlängelt sich als zerschossene Betonrinne durch den Wald. Acht Jahre nach der Olympiade waren die Sportstätten zur Frontlinie im bosnischen Bürgerkrieg geworden. Heute, angesichts eines anderen grausamen Kriegs in Europa, erscheint mir das in Sarajevo Erlebte wie ein Menetekel dafür, wie unerwartet scheinbar sicheres und friedliches Leben in eine kriegerische Katastrophe gestürzt werden kann.
Auch die 1959 errichtete Seilbahn vom 1629 Meter hohen Trebević in das südliche Stadtzentrum war Anfang der 1990er Jahre zerstört worden. Inzwischen ist sie schöner denn je wieder aufgebaut. Bei der Fahrt vom Berg eröffnet sich ein grandioser Blick auf das sich an der Miljacka hinziehende Sarajevo und die umliegenden Gebirgsketten. Hinsichtlich des üblichen touristischen Blicks bleibt allerdings das Schweben ausgesprochen zwiespältig. Die Fahrt gleitet vorbei an Ruinen ehemaliger Olympiabauten und sie nimmt unwillkürlich den Blick jener serbischen Artilleristen auf, die vor dreißig Jahren nicht nur das sich unweit der Bodenstation befindliche historische Rathaus zerschossen. In dem 1894 fertiggestellten Gebäude befand sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum August 1992 die historisch außerordentlich wertvolle Nationalbibliothek. Deren Bestände sind unwiederbringlich verloren. Das Gebäude selbst wurde inzwischen mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut. Unmittelbar neben dem Rathaus erstreckt sich mit der Baščaršija der älteste Teil Sarajevos aus osmanischer Zeit. Das Marktviertel mit seinen Handwerksbetrieben, Läden, Moscheen und Karawansereien vermittelt ein anheimelndes orientalisches Flair. Hier wird der bosnische Kaffee vollendet serviert und man kann sich mit den Nationalspeisen Ćevapi oder Bosanski lonac, einem Eintopf aus Lamm- und Rindfleisch, stärken. Ein Bier zum scharfen Essen bekommt man an dieser Stelle allerdings nicht. Wir sind im muslimischen Teil der Stadt. Doch muss man nicht weit laufen, um an ein Glas des recht wohlschmeckenden „Sarajevska pivara“ zu kommen. In Sarajevo liegen die unterschiedlichsten Kulturen eng beieinander und sie ergänzen sich in dieser Stadt auf besondere Weise.
Auf vierhundert Jahre osmanischer Herrschaft folgten in Bosnien-Herzegowina vierzig Jahre Habsburger Dominanz. Neben den muslimisch geprägten Vierteln entstand in diesen Jahren eine moderne westliche Stadt. Die damals erbauten Straßenzüge erinnern an Wien, Lemberg oder Budapest. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Sarajevo im sozialistischen Jugoslawien zu einer Großstadt mit zunehmend industrieller Prägung. Zeugnis davon legen die weitläufigen Hochhaussiedlungen ab, die sich nahezu bis zum Flugplatz erstrecken. Der hier architektonisch symbolisierte Epochenwandel könnte fast harmonisch erscheinen, wenn es nicht in allen Stadtteilen noch heute sichtbare Wunden des 44 Monate andauernden Belagerungskrieges der frühen 1990er Jahre gäbe. Zahlreiche Gedenkorte erinnern zudem an diese traurige Zeit der Stadtgeschichte. Da sind die „Rosen von Sarajevo“: Überall dort, wo in den Straßen Menschen durch Granatbeschuss starben, hat man die kleinen Einschlagkrater mit rotem Harz ausgegossen, so dass sie wie Blumen wirken. Unweit der Baščaršija, auf einem Hügel gleich neben der mit Petrodollars erbauten imposanten Repräsentanz des Großmuftis von Bosnien befindet sich der Kovaći-Friedhof. 2500 weiße Stelen, die an einen Teil der muslimischen Gefallenen des Bürgerkrieges erinnern, gemahnen hier zu demütiger Einkehr. Im modernen Zentrum von Sarajevo liegt der Veliki Park. Hier wird der Besucher zu besonderer Nachdenklichkeit herausgefordert. Eine Glasskulptur von Mensud Kečo symbolisiert an diesem Ort eine Mutter, die versucht ihr Kind zu schützen. Das Denkmal erinnert an die 1300 Kinder, die zwischen 1992 und 1995 ums Leben kamen. Auf Metallzylindern stehen die Namen und Geburtsdaten. Erinnerung an grausam beendete Leben, die heute alle im vierten Lebensjahrzehnt stehen könnten. Teilweise wurden die Kinder durch Scharfschützen getötet. Das besonders Perverse dabei war – der ehemalige Kriegsreporter Otmar Jenner hat es bereits 1999 in seinem Buch „Sarajevo Safri“ beschrieben –, dass unter den Snipern zahlreiche wohlhabende Ausländer waren, die gegen eine hohe Gebühr für die Belagerer ihre Mordlust auslassen konnten. Der Preis für ein Kind war dabei besonders hoch.
So schrecklich die Anlässe für die Gedenkorte auch waren, es finden sich in Sarajevo keine martialischen Rachesymbole. Ohnehin pflegt man hier eher eine Erinnerungskultur, die produktive Aufklärung zulässt. Der Stadtpark wird nach wie vor von der Marschall-Tito-Straße tangiert. An deren Anfang erinnert beim ehemaligen Grand-Hotel „Europa“ eine „Ewige Flamme“ an die Befreiung der Stadt 1945 durch die Partisanenarmee aus Angehörigen aller jugoslawischen Ethnien. In einer kleinen Grünanlage steht ungeachtet aller politischen Umbrüche eine Büste von Vladimir Perić, genannt Valter, der in Sarajevo den Widerstand gegen die deutschen Besatzer anführte. Derart tolerant geht man andernorts in Osteuropa selten mit kommunistischen Veteranen des antifaschistischen Widerstands um. Das aus dem Jahre 1913 stammende Gebäude der Hauptpost der bosnischen Hauptstadt lässt insbesondere mit seiner großen Schalterhalle unter einem Glasdach in voller Sinnlichkeit erfahren, was die Institution Post einmal war. Und das Schönste ist, hier werden tatsächlich noch entsprechende Dienstleistungen angeboten. Auch dieser Prachtbau aus Habsburger Zeit wurde 1992 in Brand geschossen. Mit Hilfe Österreichs ist das Gebäude restauriert worden. Daran erinnert eine Gedenktafel im Eingangsbereich des Hauses. Sie befindet sich gegenüber einer älteren Tafel zum Andenken an getötete Postangestellte, die sich am Untergrundkampf gegen den Faschismus in den 1940er Jahren beteiligt hatten.
Historische Differenzierung und Toleranz ist etwas, auf das man in Sarajevo, offensichtlich nicht zuletzt wegen der gemachten tragischen Erfahrungen, großen Wert legt. Unser Stadtführer Mohammed, der sein Deutsch mit entsprechendem Akzent als Busfahrer in Schwaben gelernt hat, erklärte das, was man hier beispielsweise unter islamischer Gelassenheit versteht, vor der Gazi-Husrev-Beg-Moschee, wo zahlreiche Gläubige gerade ihr Mittagsgebet verrichteten. Dann führte er um die Ecke zu der naheliegenden jüdischen Synagoge. Anschließend brauchte es nur wenige Schritte bis zur katholischen Kathedrale und wenig weiter zur alten serbisch-orthodoxen Kirche. In seinen Augen sind das alles steinerne Zeugnisse dafür, wie entspannt die unterschiedlichen Religionen miteinander existieren können. Und noch etwas war ihm wichtig. Mit Blick auf seine deutschen Erfahrungen verwies er mit einem gewissen Stolz darauf, dass keiner der sakralen Bauten eine Videoüberwachung braucht und schon gar keine bewaffneten Posten davor stehen müssen. Man hat gelernt, respektvoll miteinander umzugehen. Die vormaligen Belagerer der Stadt waren für ihn auch nicht pauschal Serben, sondern faschistische Tschetniks oder serbische Nationalisten. So gesehen hat er kein Problem damit, Serben – hier inzwischen nach den Saudis die zweitgrößte ausländische Touristenpopulation – durch die Gassen zu führen.
Ausgangspunkt seines Rundgangs war jene Straßenecke, an der der Name Sarajevo wohl am unmittelbarsten mit der europäischen Geschichte verbunden ist. Dort erschoss der Gymnasiast Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin. Im Vergleich zur historischen Überstilisierung im 20. Jahrhundert wird das Ereignis heute wohltuend kleingehalten anekdotisch erzählt. Mir erscheint das angemessen. Das Attentat war zwar tragisch, doch benutzt als Anlassnarrativ für den Ersten Weltkrieg lenkte es viel zu lange von den tatsächlichen Kriegsgründen ab.
Im noch relativ authentisch belassenen Sarajevo spiegeln sich in vielfältiger Weise sowohl im Guten wie im Schlechten alle gesellschaftspolitischen Konfliktfelder unserer Zeit. Momentan dominieren Impulse des Ausgleichs und der Versöhnung. Möge es so bleiben.
Der Autor erhielt am 30. September 2023 den Programmpreis der DEFA-Stiftung. Die Redaktion gratuliert!
Schlagwörter: Epochenwandel, historische Differenzierung, Jugoslawien, Klaus-Dieter Felsmann, Sarajevo, Toleranz, Versöhnung