Die Geschichte lehrt dauernd,
aber sie findet keine Schüler.
Ingeborg Bachmann
Als Bonmot infolge allgemeiner Erfahrung können wir der Autorin den Merksatz gern abnehmen; aber mit Vorbehalt: Beim Gebrauch von Geschichte kann man bekanntlich, wie bei der Wahl von Eltern, nicht vorsichtig genug sein. Und zumindest folgender Aspekt sollte tunlichst stets mitbedacht werden: „Solange etwas ist, ist es nicht das, wie es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt.“
Auch dieser Text stammt nicht aus Leitlinien für den Geschichtsunterricht, wenngleich das durchaus passend wäre. Martin Walser stellte diese Sentenz an die Spitze seines 1988 erschienenen Romans „Ein springender Brunnen“ – aus eigenen Erfahrungen, einschließlich solcher, die er noch gewinnen würde.
Gute Gelegenheit zur Anknüpfung bot sich zehn Jahre später bei seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche. Nach allgemeiner Erinnerung hat Walser bei dieser Gelegenheit davor gewarnt, die „Auschwitzkeule“ als instrumentalisierte Geschichte und als Gütesiegel für die Betroffenheit von „Gewissenswarten“ zu benutzen.
17 Jahre später, am 1. Mai 2015, meldete DER SPIEGEL, der Schriftsteller Martin Walser, nun 88, habe sich deutlich von seiner Frankfurter Rede Rede distanziert: Es sei „vielleicht leichtsinnig“ von ihm gewesen, „von der Instrumentalisierung des Holocaust zu sprechen, ohne Namen zu nennen“. Er habe „an Günter Grass, Joschka Fischer und Walter Jens gedacht doch Ignatz Bubis habe geglaubt, er sei gemeint“. Walsers Einlassung blieb – erwartungsgemäß? – ohne größeres Echo und ohne besondere öffentliche Anteilnahme.
Die Paulskirchen-Rede wäre damit Geschichte und abgehakt, wäre sie nicht auch als Vorfall mit Potenzial für Dauerwirkung zu betrachten, was seinerzeit jedoch vom sofort versus Walser einsetzenden Shitstorm, um einen heutigen Begriff zu gebrauchen, überschwemmt wurde. So musste auch nicht erörtert werden, was Walser zu bestimmten deutsch-deutschen Vorgängen in der Paulskirche ebenfalls gesagt hatte: „Ich bin […] nicht der Ansicht, daß alles gesühnt werden muß. In einer Welt, in der alles gesühnt werden müßte, könnte ich nicht leben. Also ist es mir ganz und gar unangenehm, wenn die Zeitung meldet: Ein idealistischer Altachtundsechziger, der dann für die DDR spionierte und durch die von Brüssel nach Ostberlin und Moskau verratenen NATO-Dokumente dazu beigetragen hat, denen im Osten begreiflich zu machen, wie wenig von der NATO ein atomarer Erstschlag zu befürchten sei, dieser idealistisch-sozialistische Weltverbesserer wird nach der Wende zu zwölf Jahren Gefängnis und 100 000 Mark Geldstrafe verurteilt, obwohl das Oberlandesgericht Düsseldorf im Urteil festhält, ‚daß es ihm auch darum ging, zum Abbau von Vorurteilen und Besorgnissen des Warschauer Paktes die Absichten der NATO transparent zu machen und damit zum Frieden beizutragen‘. Und er habe auch nicht ‚des Geldes wegen für seine östlichen Auftraggeber gearbeitet‘. Wolfgang Schäuble und andere Politiker der CDU haben dafür plädiert, im Einigungsvertrag die Spionage beider Seiten von Verfolgung freizustellen. Trotzdem kam es 1992 zu dem Gesetz, das die Spione des Westens straffrei stellt und finanziell entschädigt, Spione des Ostens aber der Strafverfolgung ausliefert. […] Dieser Gefangene büßt also die deutsche Einigung. […] Fünf Jahre von zwölfen sind schon verbüßt. Wenn schon die juristisch-politischen Macher es nicht wollten, dass Ost und West rechtlich gleichgestellt wären, wahrscheinlich weil das eine nachträgliche Anerkennung des Staates DDR bedeutet hätte – na und?! –, wenn schon das Recht sich als unfähig erweist, die politisch glücklich verlaufene Entwicklung menschlich zu fassen, warum dann nicht Gnade vor Recht?“ Dazu der kaum irgendwo zitierte Schlusssatz von Walser: „Jetzt sage ich nur noch: Ach, verehrter Herr Bundespräsident, lassen Sie doch Herrn Rainer Rupp gehen. Um des lieben Friedens willen.“
Der damalige Bundespräsident Roman Herzog muss angestrengt weggehört haben. Erst Ende Mai 2000, nach sieben Haftjahren, wurde Rupp auf Bewährung entlassen. Die Sprecherin der Bundesanwaltschaft erklärte dazu, es sei üblich, verurteilte Spione nach Verbüßung von der Hälfte bis zwei Dritteln der Strafe freizulassen.
Der unerschütterliche Rechtsstaat hatte damit als Teil eines Systems agiert, das sich – gewiss motiviert durch „Einheit“ vermittels Beitritt sowie durch Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes – als Sieger des Kalten Krieges wähnte und gerierte.
Andere Kollateralschäden dieser Attitüde – wie etwa die Ausweitung der NATO – erwiesen sich als Menetekel für weit Schlimmeres …
Schlagwörter: Herbert Bertsch, Martin Walser, Rainer Rupp