Der Künstler, der die Verselbständigung der Farbe am weitesten geführt hat, war kein deutscher Expressionist, sondern der französische Maler belorussisch-jüdischer Abstammung Chaim Soutine. Er wuchs in Smilovitchi, einer kleinen, 20 km von Minsk entfernten jüdischen Stadt im damals litauischen Teil Weißrusslands in armen, glücklosen Verhältnissen auf, begab sich 1911 als Zwanzigjähriger nach Paris, in dessen internationale Atmosphäre sich der aus dem Stetl Kommende erst eingewöhnen musste. Er bezog ein Atelier im baufälligen Gebäudekomplex „La Ruche“, dem „Bienenstock“, am Montparnasse, in dem zahlreiche Künstler arbeiteten, litt weiterhin unter schrecklicher Armut, ging aber mit geradezu obsessiver Leidenschaft und Hingabe seiner Malerei nach. Er machte die Bekanntschaft seines Landsmanns Chagall, aber sein engster Freund war Modigliani. Es gab keinen größeren Unterschied zwischen beiden: Modigliani war charmant und geistreich, der jüdische Immigrant Soutine verbittert und verschlossen, widersprüchlich, geradezu unbeholfen. Nachdem Modigliani 1920 gestorben war, zog sich Soutine völlig zurück und führte in ruheloser Unstetheit das Leben eines Einsiedlers. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, als Jude ständig in der Gefahr, deportiert zu werden, starb er 1943 in Paris, nachdem vergeblich versucht worden war, durch eine Operation sein Leben zu retten.
Depressiv veranlagt, war für ihn wie für van Gogh die Farbe gleichsam eine Ausstrahlung überreizter Nerven. Ja, er war eine exzentrische Persönlichkeit, aber nichts von seinem wechselvollen Leben drang eigentlich in seine Malerei ein, hier gibt es keinen Hinweis auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die sein Leben doch so stark geprägt hatten. Immer wieder vernichtete er wutentbrannt ein Bild nach dem andern, vor allem aus der so produktiven Céret-Zeit, das ihm später nicht mehr gefiel.
Die Soutine-Retrospektive, die jetzt im 130. Geburtsjahr und zum 80. Todestag des Künstlers in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf stattfindet, ist überhaupt erst die zweite in Deutschland. Hierzulande ist Soutine, den man in eine Reihe neben Modigliani, Derain, Picasso, Braque, Chagall und Léger stellen kann, bisher nicht so sehr bekannt, auch die großen deutschen Kunstmuseen besitzen nur Einzelwerke von ihm. Wie Kokoschka und Nolde vertrat er einen figürlichen Expressionismus. Aber wie in Kandinskys frühen Improvisationen, in Kokoschkas visionären Umwandlungen der Wirklichkeit, in Rouaults und Noldes leuchtenden Farbzusammenballungen, finden sich Elemente des abstrakten Expressionismus auch schon in Soutines Farbexplosionen.
In der Zeit seiner Armut, 1916 und 1917, entstanden eine Reihe von Stillleben, Arrangements seiner dürftigen Mahlzeiten in dunklen und düsteren Farben („Stillleben mit Heringen“, um 1916). Das Volumen ist ganz ins Flächige aufgelöst. Erbarmungsheischend schauen uns die Heringe an, die gleich von den wie ausgezehrte, abgemagerte Hände wirkenden Gabeln aufgespießt werden. Dem standen dann 1918 und 1919 Bilder von Blumen, von Gladiolen, Rosen und blühendem Flieder entgegen, die Oberfläche verwandelte sich in eine dichte Farbmembran.
In der sich rasch wandelnden Wirklichkeitsauffassung werden Soutines Figuralkompositionen und Porträts wie Stillleben und Landschaftsbilder in ihrer Formsubstanz instabil, diese löst sich auf, durch leidenschaftliche, selbstzerstörerische Deutung werden sie zum Schauplatz seelischer Expression. Die hellsichtig neurotische Transzendenz und die halluzinatorische Strahlkraft in seiner Malerei zeugt bereits von der Selbstentfremdung des Menschen. Bis in die späten 1920er Jahre malte der Künstler immer wieder Bilder von Zuckerbäckern, Chorknaben in ihren Roben und uniformierte Hotelangestellte, Diener und Pagen, Mägde und Zofen. Großflächige Farbkompositionen setzen die Frau in Rot, Blau oder Rosa, den Zuckerbäcker in Weiß. Die Figuren wirken in ihren Verzerrungen, in ihrer grotesken Erscheinung wie mechanische Puppen, Homunculusse und könnten auch als Vorstufen der Maschinenmenschen von Fernand Léger, der Mannequins von Chirico und der gläsernen Personnage im „Triadischen Ballett“ von Oskar Schlemmer angesehen werden. Sie tragen die Melancholie der Vereinzelung und Verfremdung des Menschen in der technifizierten Welt, Ausdruck der Angst, des Rätselhaften, der unbegriffenen und unheimlich gewordenen Welt.
Bild um Bild kämpfte Soutine darum, sich seine Motive physisch einzuverleiben. In ihrer expressionistischen Gewalttätigkeit scheinen die Gemälde seine bevorzugten Meister – Rembrandt, El Greco und Courbet – zu karikieren. Die düsteren Abbildungen ausgeschlachteter Ochsen, die er in seinem Pariser Atelier aufhängte, sind eine Hommage an Rembrandt („Der geschlachtete Ochse“, 1925) – auch wenn sie fast die Form einer wilden Parodie annehmen. Das nackte Fleisch wirkt – ganz nah an unser Auge geholt – erbarmungslos auf den Betrachter. Das Grauenhafte wie das Banale der menschlichen Existenz steht dahinter: Fressen und Gefressen-Werden. Später hat Soutine auch „Hängendes Geflügel“ (um 1925) dargestellt, auf diesem Gemälde sieht man noch ein Messer, das gerade zu Boden zu fallen scheint, nachdem es seine tödliche Aufgabe erfüllt hat. Immer wieder ist darüber gerätselt worden, wie seine Gemälde von Rinderkadavern und sterbendem Geflügel, über Tod und Opfer zu verstehen sind. Sollte man sie nicht zuallererst als Produkte einer gequälten Persönlichkeit ansehen, deren traumatische Erfahrungen der frühen Kindheit im Stetl prägend für die Sichtweise der Welt waren?
Soutine wollte die statische Starre im Bild überwinden. Es ist zugleich aber das Gefühl des schwankenden Bodens, die Instabilität der Welt, die ihm Angst machte. Die Welt ist aus den Fugen. Das war wohl auch der Grund für die verwischte Bewegtheit seiner Konturen, die Auflösungserscheinungen, den Versuch, der Bewegtheit des Films nachzugehen. Die Gesichtszüge der Porträtierten verschwimmen, die Körper der Figuren wanken, suchen Balance, die Gegenstände zerfließen, die windschiefen Landschafts- und Städtebilder kippen förmlich aus dem Rahmen.
In ihrem jähen, malerischen Ungestüm haben die Landschaften, die Soutine in Céret, einer Stadt in den französischen Pyrenäen, in der schon Picasso, Braque und Juan Gris gemalt hatten, von 1919 bis 1922 schuf, tatsächlich nicht ihresgleichen („Céret-Landschaft“, 1922). Die Häuser wirken wie von einem Sturm schiefgedrückt, die Hügel bäumen sich auf, der Horizont wird steil nach unten gezogen, wahre Wirbelstürme rasen über das Bild. Vorder-, Mittel- und Hintergrund schieben sich zusammen. In „Hügel in Céret“ (um 1921) brodelt alles, die Farbe explodiert, steigt Lava gleich auf. Das Klaustrophobische dieses Bildes, das seine Raumschichten zusammendrängt, sucht den Blick des Betrachters förmlich ins Bild hineinzuziehen. In den drei Céret-Jahren hat Soutine in verzweifelter Besessenheit etwa 200 Bilder gemalt.
1923 ermutigte der Kunsthändler Leopold Zborowski Soutine zu einem zweiten Aufenthalt in Südfrankreich, diesmal nach Cagnes-sur-Mer. Die dort entstandenen expressiven, fast rhythmischen Bilder haben einen anderen Duktus. In „Landschaft in Cagnes“ (1923) ist die auf einem Hügel gelegene Stadt und die sie umgebende Landschaft wie von einem amorphen Strudel erfasst, der aber nun in der Bildkomposition verbleibt und nicht mehr aus ihr heraustritt wie in den Céret-Bildern. Wurden jene als Soutines Rückzug in die Innenwelt interpretiert, so diese danach gemalten Cagnes-Landschaften als eine Öffnung nach außen. So ist in „Straße in Cagnes (La Gaude)“ von 1923 der zuckende Raum, der aus den Angeln gehoben wird, nun in eine eher fließende Bewegung übergegangen, die an das unbestimmt schwingende Zeit-Raum-Gefühl eines Traums erinnert. In den Porträts bleiben aber die Überdehnungen und grotesken Verzerrungen. Soutines Grundeinstellung zum Leben, Misstrauen und Unsicherheit haben sich trotz der Verbesserung seiner Lebensverhältnisse – der amerikanische Sammler Albert C. Barnes kaufte 1923 Bilder für eine für Soutine unvorstellbare Summe und dieser wurde nun zu einem begehrten Künstler – nicht gewandelt. Aber seinen zerfließenden, schwankenden Formen suchte er nun doch mehr Festigkeit, einen bestimmten Halt zu geben.
Soutines Bilder berühren jeden Betrachter auf eine andere Art und Weise.
Chaim Soutine – Gegen den Strom, K 20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Grabbeplatz 5, 40213 Düsseldorf; bis 14. Januar 2024. Katalog im Hatje Cantz Verlag Berlin 40,00 Euro, (in der Ausstellung 32,00 Euro).
Schlagwörter: Chaim Soutine, Expressionismus, K 20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Klaus Hammer, Transzendenz