Die argentinische Ausgabe der Voz de America (Voice of America) berichtete im Mai dieses Jahres unter dem Titel „Umstrittener und exzentrischer argentinischer Ökonom gewinnt in Umfragen an Zustimmung“ über eine Veranstaltung des argentinischen Ökonomen Javier Milei. „Der Moderator begrüßt den zukünftigen Präsidenten Argentiniens. Das Publikum fängt an zu schreien […] Er sieht aus wie ein Rockstar, der in Anzug und Krawatte gekleidet ist. […] Er animiert seine Anhänger, bis alle schreien: Die Kaste hat Angst, die Kaste hat Angst.”
Die Voz erklärt dann, wer Milei ist. Er ist seit 2021 Abgeordneter und Vorsitzender der Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran), ein seit 2021 bestehendes ultrakonservatives und extrem rechtes Parteienbündnis. Die Kaste ist die argentinische politische Klasse, die Milei für korrupt, unfähig und privilegiert hält.
In den im August 2023 durchgeführten obligatorischen Vorwahlen erhielt Milei rund 30 Prozent der Wählerstimmen. Für den rechten Flügel der neoliberalen Partei Juntos por el Cambio (Zusammen für den Wechsel) mit der Kandidatin Patricia Bullrich (sie war 2015-2019 Innenministerin in der Regierung Mauricio Macri) stimmten 17 Prozent. Der Kandidat der Regierungspartei, der aktuelle Wirtschaftsminister der Regierung Alberto Fernández, Sergio Massa, für die Unión por la Victoria (Union für den Sieg) erzielte 21 Prozent. Die Union wurde als Wahlallianz verschiedener peronistischer Gruppen (Radikale, Konservative, Sozialisten, Gewerkschaftsbewegungen) im Juni 2023 für den Präsidentschaftskandidaten Sergio Massa gegründet. Sie ist die Nachfolgerin der Frente de Todos (Front für alle), in der die Partido Justicialista (Gerechtigkeitspartei) mit ihrem Präsidenten Alberto Fernández die Mehrheit hat. Die PJ ist Nachfolgerin der von Juan Perón 1946 gegründeten Peronistischen Partei.
Zusammen genommen liegen die rechten Parteien bei 47 Prozent, d.h. sie könnten den ersten Wahlgang der Präsidentenwahl am 22. Oktober für sich, sprich für Milei, entscheiden. Dieses Ergebnis ist Folge der wenig erfolgreichen Politik des aktuellen Präsidenten Alberto Fernández, mit der grassierenden Inflation und dem gravierendem Defizit der Zahlungsbilanz fertig zu werden,
Die soziale Situation Argentiniens wird charakterisiert durch eine Ausweitung der Armut und Prekarisierung. Im Verlaufe der letzten fünfzig Jahre hat sich der Anteil der Armen von drei auf 40 Prozent der Gesamtbevölkerung erhöht. Verzeichnet werden eine zunehmende Wohnungsnot und ein verschlechtertes Bildungs- und Gesundheitssystems. Mehr und mehr qualifizierte Arbeitskräfte verlassen das Land. Das Realeinkommen der Bevölkerung sinkt. Die Renten werden gekürzt. Eine Erholung der argentinischen Wirtschaft ist nicht in Sicht.
Fast 40 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur lebt das Land in einer wirtschaftlichen und unkontrollierbaren Krise und einer Situation politischer Unsicherheit. Die finanziellen und Währungsprobleme bringen beträchtliche Einschränkungen für die Menschen mit sich.
Kapitalflucht führte zu einer Dekapitalisierung des Produktionsapparates, was eine Absenkung des BIP um 70 Prozent zur Folge hatte. Besonders die strukturellen Ungleichgewichte führten dazu, dass Gewinne nicht in eine effiziente Industrie investiert wurden, was Konflikte zwischen dem Agrobusiness und dem industriellen Sektor verursachte.
Ständig konfrontiert mit Krisen, handelte die politische Klasse nach den vom IWF vorgegebenen Regeln: Abwertung der Währung, erhöhte Inflation, ständiges Ansteigen der öffentlichen Schulden. Auch die kommenden Wahlen werden überschattet durch die vom ehemaligen Präsidenten Macri abgeschlossenen Kreditverträge mit dem IWF. Mit der Währungskrise 2018 nahm Macri einen IWF-Kredit in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar auf. Das war der größte Kredit, den der IWF je vergab und machte elf Prozent des BIP Argentiniens aus. Er wurde drei Monate später auf 50,7 Milliarden erhöht. Argentinien verschuldete sich seit 1996 wie kein anderes Land. Die Auslandsverschuldung Argentiniens wuchs in den Regierungsjahren Macris um 76 Prozent. Macri entschloss sich auch, den Spekulationsfonds 9,3 Milliarden US-Dollar zu zahlen, was für diese einen Gewinn von 1180 Prozent erbrachte.
Argentinien kann unter diesen Bedingungen kaum unabhängig regiert werden. Alle Maßnahmen zur Durchsetzung von mehr Austerität schließen immer mehr Gewalt und Kriminalisierung gegen jegliche soziale Proteste ein. Keiner Regierung – weder dem Neoliberalen Macri noch dem linken Peronisten Kirchner – gelang es, die Wirtschaft zu stabilisieren. Der jetzige Präsident Alberto Fernández folgte einem eher orthodoxem Modell. Denn die erhöhte Inflation als Anpassungsinstrument führte zur weiteren Verschlechterung der Lage der Menschen. Er übernahm im Dezember 2019 mit 333,5 Milliarden US-Dollar Schulden die Präsidentschaft. Die letzten Jahre waren gekennzeichnet von Reprimarisierung durch erhöhte Exporte von Rohstoffen (Erdgas, Erdöl, Lithium). Radikale Veränderungen wie die Kontrolle der Kapitalbewegungen zur Stabilisierung der Währung und die Inflation einzuschränken, wurden nicht realisiert.
Für Milei, der sich selbst als ultraliberal bezeichnet, ist das der Nährboden, auf dem er als Vertreter des freien Marktes aufbaut und seine radikalen Absichten wie Abschaffung der Zentralbank, Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft, Privatisierung des Gesundheits- und Bildungssystems, die Neubewertung des Polizei- und Militärapparates und des Austritts aus dem Mercosur (letztendlich auch aus der eben beschlossenen Aufnahme Argentiniens in die BRICS) verbreitet. Er verteidigt das Tragen von Waffen, fordert die Abschiebung von Ausländern und ein Verbot von Abtreibungen. Er will drastisch die Staatsausgaben kürzen. Nach seinen Worten ist ein Schwenk um 180 Grad, d.h. die Zerstörung des status quo des Staates und damit einer „antisystemischen Politik“, wie sie seine Vorbilder Trump und Bolsonaro realisierten, erforderlich.
Für Milei ist der Staat die Ursache allen Übels, deshalb Einschränkung aller Sozialausgaben und die Abschaffung wesentlicher Ministerien. Milei folgt der Chicagoer Schule und erklärt, dass „die soziale Gerechtigkeit, die der Staat zu gewährleisten hat, das Krebsgeschwür Argentiniens ist“. Immer mehr, vor allem junge Menschen, halten Milei für einen Politiker, der ihre wirtschaftliche und soziale Situation verbessern kann. Milei hat Tausende von Anhängern in den sozialen Medien. Für die Medien ist Milei der argentinische Bolsonaro. Nach Milei ist der latente Krisenzustand der argentinischen Wirtschaft Resultat des „linken Polpulismus“, der das Land vergiftete.
Mit dem Fortschreiten des Neoliberalismus sind viele Bereiche, wie Bildung, Gesundheit, Sozialversicherung, innere Sicherheit und selbst auch die nationale Verteidigung in gewinnbringende Felder des Kapitals verwandelt worden. Milei gelingt es mit der propagierten „Radikalisierung“, sich eine Wählerbasis zu schaffen, die voll den Interessen der Transnationalen, Investoren und Spekulanten entspricht.
Argentinien wurde zum Land, in dem sich die Rivalität der USA und Chinas in besonderer Weise ausdrücken. Der IWF fungiert als Instrument Washingtons. China konzentriert sich auf die Vergabe von Krediten in Yuan, mit denen argentinische Exporte finanziert werden können. Die politisch-kulturelle Abhängigkeit der Eliten von den USA steht im Gegensatz zu den attraktiven Angeboten Chinas, wodurch das Land weiter in einer hegemonialen Krise verharrt, die bisher keine Lösung fand. Für das Establishment hat diese Situation allerdings bestimmte Vorteile: Argentinien als großer Exporteur von Rohstoffen ist damit beim internationalen Kapital stark gefragt. Die ausländischen Investitionen erreichen eine bisher nicht gekannte Höhe. In dieser Situation erschien Milei. Von den Medien favorisiert, kam er in die Politik ohne jeglichen politischen Hintergrund. Er wurde installiert, um sein radikales, aggressives Programm zu propagieren.
Die Basis der aktuellen peronistisch orientierten Regierung ist eine Bevölkerung, die auf die soziale Politik der Regierung baut. Ein Teil dieser Wähler stimmte aber für Milei, weil den Ärmsten es leid ist, auf Verbesserungen zu hoffen. Anstatt Verbesserungen einzufordern, herrscht eine eigenartige Passivität. Diese paradoxe Situation erklärt sich nicht nur mit den nicht ausreichenden sozialen Maßnahmen der Regierung, sondern auch mit dem Erfolg der Propaganda des Javier Milei.
Die kommenden allgemeinen Wahlen werden zeigen, in welche Richtung Argentinien sich zukünftig bewegt.
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