26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Zombie Schuldenbremse

von Stephan Wohanka

Die Ampel regiert Deutschland finanzpolitisch

auf dem Niveau einer Amish-Sekte!

 

Fabio de Masi

 

Diesen Titel gab Bert Rürup, Chefökonom des Handelsblattes im September seiner Kolumne im genannten Organ. „Fiskalregeln leisten einen wichtigen Beitrag zu einer soliden Haushaltspolitik, müssen aber realistisch und ökonomisch sinnvoll sein“ schrieb er. Sind sie das? Passt die namentlich von Finanzminister Christian Lindner, assistiert vom Kanzler und der CDU, wieder gebetsmühlenartig beschworene Schuldenbremse „ökonomisch sinnvoll“ in diese Zeit? Nein!

Es ist der „Lokalpolitiker“ Kai Wegner, auch CDU, Berlins Regierender Bürgermeister, der aus den Fehlern seines Vorvorgängers Klaus Wowereit, der sparen wollte, bis es „quietscht“ – und es quietschte! –, gelernt hat. Wegner sagt schlicht wie richtig: „Aber wenn wir jetzt nicht investieren und unsere Infrastruktur weiterhin auf Verschleiß fahren, bezahlen das nachfolgende Generationen doppelt“.

Der Satz ist zugleich die Quintessenz des „Wirkens“ der Merkelschen Schuldenbremse – wir merken jeden Tag, wie das Land, wie wir alle dadurch leiden, dass in der Merkel-Ära Vorkehrungen zur Sicherung der Zukunft Deutschlands sträflich versäumt wurden; sei es die verkommene Infrastruktur in Gestalt desolater Brücken, Schienen und Schulen, seien es unterlassene Reformen der Kranken- und Rentensysteme, des verschleppten, ja regelrecht torpedierten Ausbaus der erneuerbaren Energien oder der Reformen zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes als Folge der demografischen Entwicklung.

All das und mehr stand jahrelang an, wurde ausgesessen und einem unsinnigen Sparzwang geopfert. Wir zahlen heute doppelt und dreifach! Es grenzt an Sarkasmus, dass Merkel der höchste Orden des Landes ans Portepee gepappt wurde und einige Bundesländer nichts Eiligeres zu tun hatten als nachzuziehen.

Ein Argument zur Verteidigung der Schuldenbremse,  nachfolgenden Generationen keine Schulden aufzubürden, dürfte sich eigentlich praktisch erledigt haben. Ein anderes ist die Zins-Steuer-Quote, also der Anteil der Zinsausgaben am Steueraufkommen. Die Quote zeigt auf, inwieweit die Zinsen aus den laufenden Einnahmen getilgt werden können. Belief sie sich Mitte der 1990er Jahre auf gut 15 Prozent, betrug sie trotz Corona und Sonderausgaben 2021 laut Sachverständigenrat 2,34 Prozent. Ungeachtet von Inflation, Energiekrise und Zinswende rechnet der Rat bis 2024 mit einem Anstieg auf nur 3,35 Prozent. Es ist also noch Luft nach oben.

Zum anderen wird darauf verwiesen, dass Staaten sich nicht übermäßig verschulden sollten, da sie sonst ihrer Bonität verlustig gingen. Richtig; jedoch durch die „Unsterblichkeit“ der Staaten können diese fälligen Schulden stets durch neue Kredite ersetzen. Solange keine Zweifel daran aufkommen, dass Länder Zinsen und Tilgung dauerhaft aus ihren laufenden Einnahmen erwirtschaften, können sie auslaufende Anleihen problemlos durch neue ersetzen. Ein revolvierendes System. Faktisch müssen die Schulden also nie endgültig getilgt werden.

Ein objektives Maß für die Solidität von Staatsfinanzen gibt es nicht; Finanzpolitik ist so lange solide, wie die Anleger ihr glauben. Es giert die Welt nach US-Dollar-Anlagen, obwohl nur wenige Staaten so hoch verschuldet sind wie die USA und mittlerweile Rating-Agenturen Zweifel an deren höchster Bonität hegen.

Die Maastricht-Kriterien der EU – das jährliche öffentliche Defizit darf nicht mehr als drei Prozent und der akkumulierte öffentliche Schuldenstand darf nicht mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen – basieren auf Durchschnittswerten der späten 1980er Jahre. Sind die (noch) zeitgemäß? Denn ungeachtet der Übertretung dieser Kriterien galt und gilt Deutschland als erstklassiger Schuldner, selbst wenn die Schuldenquote zuletzt bei 66 Prozent lag und damit über der anderer EU-Staaten mit Top-Ratings wie Luxemburg (25 Prozent), Dänemark (30 Prozent) oder Niederlande (51 Prozent).

Mit seinem Haushalt für dieses Jahr und dem Etatentwurf für 2024 kehrt Lindner „zur Normalität“ zurück. 2024 will der Bund 445,7 Milliarden Euro ausgeben, das sind über hundert Milliarden Euro mehr als 2019, dem Jahr vor Ausbruch der Coronapandemie. Darüber hinaus gibt der Bund längst – schuldenfinanziert – Hunderte Milliarden Euro am regulären Haushalt und damit an der Schuldenbremse vorbei aus. Das bekannteste Beispiel ist das „Sondervermögen“ für die Bundeswehr. Diese gigantischen Schattenhaushalte führen die Schuldenbremse ad absurdum Sie ist ein lebender Toter, eben ein Zombie. Und das ist gut so.

Denn nach Ansicht ihrer Kritiker verhindert die Schuldenbremse (wieder einmal) wichtige Investitionen. Der Staat unterlasse kreditfinanzierte Investitionen nicht nur in Straßen, Schienen, Brücken, sondern vor allem in die Digitalisierung – die mickrigen 377 Millionen Euro in diesem Jahr schrumpfen im kommenden Jahr auf lächerliche 3,3 Millionen Euro – sowie namentlich in die Energiewende respektive -gewinnung; wieder mit teuren Folgen für künftige Generationen. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher hält die Schuldenbremse daher für „schädlich“; sie sei „ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit“. Die Bundesregierung müsse „ihre engstirnige Obsession mit der Schuldenbremse in diesen Krisenzeiten aufgeben“. Er empfahl stattdessen eine Mindestgrenze für ökologische, wirtschaftliche und soziale Investitionen, damit Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig blieben. Für den Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, ist die Schuldenbremse eine „Steuersenkungsbremse“. Das verwundert insofern, als dass Lindner – offenbar Anhänger der neoklassischen Theorie, wonach das Potenzial der Wirtschaft als fix gilt und der Staat dieses nicht beeinflussen kann außer durch Steuersenkungen – letztere auch immer wieder fordert.

Auch die Gewerkschaften rütteln an der Schuldenbremse. Es sei falsch, „mitten in der Transformation auf die Schuldenbremse zu pochen“, sagt die DGB-Chefin Yasmin Fahimi. Nötig seien Milliardeninvestitionen in die soziale Infrastruktur: „Wir sind im Pflegenotstand, wir laufen auf eine Bildungskatastrophe zu, wenn nicht endlich mehr investiert wird.“ Das gefährde den sozialen Zusammenhalt und damit die Demokratie. Darüber hinaus kann für produktive Ausgaben mehr Spielraum geschaffen werden, denn wenn man beispielsweise mehr Geld für Kinderbetreuung ausgäbe, schaffte man angesichts des Arbeitskräftemangels wirtschaftliches Wachstumspotenzial über (wieder) arbeitende Mütter und Väter. Nicht nur das – Bildung sollte von den Kitas bis zu Universitäten strategische Achse der Zukunftsvorsorge werden; zumal bei unveränderten Migrationsbedingungen bis 2030 noch einmal eine Million Kinder unter 15 Jahren mehr hierzulande leben werden.

Alle diese Kritiker legen den Kardinalfehler der Schuldenbremse offen: Sie unterscheidet nicht zwischen laufenden und investiven Ausgaben. Wenn Lindner auch dann noch sagt, „Mit geliehenem Geld lässt sich auf Dauer ohnehin kein Wachstum erzeugen“, negiert er grundlegende volkswirtschaftliche Zusammenhänge, wonach kreditfinanzierte Investitionen geradezu die Basis für Wachstum darstellen; auch zu langfristigem je nach Art der Investition. Und: Angesichts des schwächeren Welthandels und der Tatsache, dass andere Länder zur Stärkung ihrer industriellen Basis zu Subventionen greifen, muss Deutschland mehr Wachstum im eigenen Land hervorbringen. Lindner muss auch die Frage beantworten, warum er die oben schon erwähnten milliardenschweren Sonderfonds, etwa den Corona-Wirtschaftsstabilitätsfonds (WSF), den Energie- und Klimafonds (EKF), inzwischen der Klima- und Transformationsfonds (KTF), zulässt?

Desgleichen lässt eine vernünftige Steuerpolitik auf sich warten; sie kann einerseits entlasten und andererseits belasten. Dabei könnte man gleich ein paar Missverständnisse ausräumen; zum Beispiel, dass der Steuersatz für das gesamte Einkommen gelte: Besserverdiener zahlen nur oberhalb der festgelegten Grenze den Spitzensteuersatz – und können so auch von Entlastungen im unteren Bereich profitieren. Die Ampelpolitik erschöpft sich – wie leider üblich – auch hier wieder nur in einem simplen Ja oder Nein zu Steuererhöhungen respektive -senkungen.

Alles in allem – auch diese Regierung findet nicht zu notwendigen Reformen – der Ablösung der Schuldenbremse, einer gerechten Steuerpolitik und, hier noch nicht erwähnt, der Sozialversicherungssysteme.