26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Extinction“ – Volksbühne / „The Mirror“ und der Theaterpreis des Bundes 2023 – Chamäleon

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Volksbühne: Apokalyptisches Grundrauschen

Schon draußen dröhnt’s von drinnen. Und vorsorglich werden Ohrstöpsel verteilt. Für die mit den sensibleren Ohren. Denn was da an Techno-Schlägen erbarmungslos eindrischt auf Gehörgänge, Nervenstränge, Herzschlagfrequenzen ist infernalisch. Die zwei Jungs am DJ-Set auf der Bühne drehen volle Pulle auf im dämmrigen, von Nebelschwaden durchzogenen Saal. Man darf sich’s ungemütlich machen in den Sesseln oder einfach mal kurz raus an die frische Luft. Oder aber auf der Riesenbühne mitmachen und die Glieder verrenken. Zur Erfrischung gibt’s Freibier.

Die Stimmung ist gemischt: Genervte Irritation, abgeklärtes Grinsen, lustvolle Hingabe ans Brutale, Entfesselte, Wütende. Bis da eine trunkene Partymaus aus der Menge gefischt wird ans Telefon (alles wird gefilmt und auf Großleinwand übertragen): Es ist ein Anruf für sie, die Schauspielerin Rosa Lembeck. Aus Wolfsegg, einem Nest des Grauens in Österreich. Dem Ort und Hort des Bösen, in dem – Literaturkenner haben es zu wissen – Thomas Bernhards autobiographischer Roman „Die Auslöschung – ein Zerfall“ spielt (1988). Er liefert auch programmatisch den Titel „Extinction“ für die dreiteilige, insgesamt fünfstündige Abendunterhaltung. Ein ätzender, typischer T.-B.-Text, der Gift und Galle schüttet übers notorisch nazibraune Österreich – und die notorisch verdorbene Menschheit gleicht mit.

Doch dazu vier Stunden später. Erstmal ist nach 45 Minuten Dancefloor Schluss mit Party. Und eine halbe Stunde Pause.

Szenenwechsel. Auf der Bühne hat Lisetta Buccellato inzwischen eine jugendstilige Salonkulisse gebaut (Anzeige: „Wien, Juni 1913“). Mit verglasten und verhangenen Türen, hinter denen man (unsichtbar) hingebungsvoll Häppchen aus Stücken von Arthur Schnitzler spielt: „Fräulein Else“, „Traumnovelle“, „Komödie der Verführung“; geschrieben zwischen 1924 und 1926. Jérémie Bernaert und Pierre Martin Oriol filmen hinter den Gardinen alles bravourös ab mit der Handkamera. In schwarz-weiß für besagte Videowand.

Es soll das schwüle, psychologisch-erotisch Aufgeheizte, intellektuell Hochfahrende und weltschmerzlich Dekadente der Elite am Ende der k.u.k. Monarchie illustrieren; wobei man es mit der Jahresangabe „Wien 1913“ nicht so genau nimmt. Sei’s drum: Wir beobachten in den langen 150 Minuten des Hauptteils vom Triptychon immerzu wiederkehrende Momente, in denen die todesmüde Bourgeoisie dem Untergang entgegentaumelt. Also alles unter Hochdruck: Verzweiflung, Sucht, Gier, Sex, Gewalt. Irgendwie die Fortsetzung der Techno-Party, nur ohne Techno und Bier, dafür mit Champagner, Klaviergeklimper, Kerzenlicht. Dazu aufgeheizt philosophisch-künstlerisches Palaver; auch Hypnose, natürlich Koks und Veronal sowie gewisse Macht- und Ohnmachtsspielchen und jede Menge Übergriffiges bis hin zum Inzest – ob im Klo oder auf dem Sofa. Und ein paar grässlich zugerichtete Leichen liegen auch herum. Eigentlich nix neues für heutzutage. Und ziemlich auf der Stelle tretend. Bisschen wie „Babylon Berlin“ in Endlosschleife. Nur, dass beim aufwändigen Schnitzler-Geschnipsel die Figuren mit ihren Geschichten verdammt unbelichtet bleiben. Bloß ganz grob angerissen. – Man muss sich halt auskennen mit den Österreichern und ihrer grandiosen Literatur.

Das überhaupt ist die Crux des 1987 geborenen, hoch ambitionierten germanophilen Regisseurs und Text-Adapters Julien Gosselin. Vor einem Jahr begann er in der Volksbühne mit seinem aufs Großformat setzenden Projekt deutschsprachige Literaturgeschichte; damals mit „Sturm und Drang“, einem eher unklaren Verschnitt von Goethes „Werther“ mit Thomas Manns „Lotte in Weimar“ und noch dazu mit Nietzsche. Unterm Strich aber entwickelt der Mann aus Frankreich, wie jetzt wieder, aus seinen durchaus gekonnt inszenierten Collagen kein wirklich spannendes „Stück“. Sondern bleibt stecken im theatralischen Statement mit apokalyptischem Grundrauschen: diesmal plakativ das ausgewalzte Thema „Agonie, Aufschrei, Vernichtung“. Allerdings mit eigenem exzellenten deutsch-französischen Ensemble (Übertitelung deutsch, französisch und obendrein englisch). – Nebenbei bemerkt: Die tolle Truppe firmiert unter dem hübschen Motto „Könnten Sie doch mein Herz lecken“.

Bevor der exzessiv am Weltelend leckende, aber kaum ein Herz ergreifende Wien-Teil der zweiten Pause des Abends entgegen deliriert, liefert die Schauspielerin Marie Rosa Tietjen noch eine einigermaßen abseitige Slapstick-Farce mit Hugo von Hofmannsthals „Chandos-Brief“ von 1913, einem Theorie-Text, der die Suche nach einer neuen Ästhetik umkreist. Sagen wir so: Es geht um Psychorealismus oder metaphorische Abstraktion. Sehr speziell, mäßig komisch, wenig interessant, dafür akrobatisch.

Zum späten Finale vor Mitternacht kommt, wie eingangs erwähnt, Thomas Bernhard mit seiner monologisch gefassten „Auslöschung“. Genauer gesagt: Auf einem Podest der ansonsten abgeräumten Bühne wippt 55 Minuten lang nervös kettenrauchend im eleganten Freischwinger die Schauspielerin Rosa Lembeck alias Franz-Josef Murau, der in Wolfsegg am Totenbett seiner durchtrieben bigotten und abgründig bornierten Eltern hockt und verzweifelt wutschnaubend von befreiender Auslöschung fantasiert. Eine phänomenale Gedächtnisleistung als depressiver Schlusspunkt der nihilistisch schillernden Show.

Ihre Kurzfassung käme in hundert Minuten zum selben einigermaßen platten Resultat: Es steht schlecht, sehr schlecht um die Menschheit.

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Chamäleon: Speerspitze und Geldregen

Der so anheimelnd intime Showpalast in den gründerzeitlichen Hackeschen Höfen, der intensiv den Neuen Zirkus pflegt, trägt diesmal Rabenschwarz. Die Guckkastenbühne von oben bis unten verhangen mit einer Vielzahl beweglicher Stoffbahnen in schwarz. Ideal für aus unterschiedlichsten Perspektiven plötzlich aufblitzende Lichtkegel. In denen bildet eine hochleistungssportliche australische Companie (Koproduktion mit Sidney Opera House) auf- und abstürzende Menschentürme. Oder lässt Leiber kreuz und quer durch die Luft schießen, als gäbe es keine Gravitation. Die Truppe heißt sinnigerweise Gravity & Other Myths (Gastspiele in 37 Ländern). Ihre Spezialität: wagehalsig fliegendes Ballett in raffinierter Choreografie; atemberaubende Luftnummern. – Das gebannte Publikum vergisst vor Angst und Staunen zuweilen den Applaus in diesem wahrlich sensationellen Programm „The Mirror“, das obendrein noch gefüllt ist mit kontrapunktisch gesetztem Video-Design, mit Musik (Elektropop), jazzigem Gesang und, natürlich, virtuosem (halsbrecherischem) Bodenturnen – alles als theatralisch inszeniertes Gesamtkunstwerk. Eben Neuer Zirkus.

Da wir seit längerem schon das beispielhaft innovative Treiben im Neuen Zirkus Chamäleon verfolgen, ist es auch für uns eine Genugtuung, dass dieses in jeder Hinsicht elegant betriebene Institut anspruchsvoller Unterhaltungskunst jetzt ausgezeichnet wurde: Mit dem Theaterpreis 2023 des Bundes! Große Ehre plus allerhand Geld: 100.000 Euro.

Die Jury sieht das von Anke Politz (Intendantin) und Hendrik Frobel (Geschäftsführer) geleitete Haus als „Speerspitze einer dynamischen Entwicklung der Darstellenden Künste, das bestehende Grenzen zwischen Genres und Betriebsformen überwindet“. Es stehe für einen Zirkus, der sein künstlerisches Potenzial so entfalte, dass sich alle Fragen nach U- oder E-Kultur, nach Sub- und Hochkultur in körperlich spürbare ästhetische Energie sublimiere.

Weiterhin jubiliert die Jury: Besonders die 18 Monate Corona-Schließzeit hätten das Haus trotz unplanbarer Bedingungen und keinerlei finanzieller Sicherheit zum Inkubator für künstlerisch Neues gemacht. Einschließlich sozialer Absicherung der internationalen Companien, neuer Koproduktionen und der Residenz-Programme. Stimmt! Bravo!