26. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2023

Elise Ewert dem Vergessen entrissen

von Mario Keßler

Arthur Ewert (1890-1959), als „Versöhnler“ abgewerteter innerparteilicher Kritiker des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, wäre wohl der Vergessenheit anheimgefallen, hätte nicht der Lateinamerika-Historiker Ronald Friedmann 2015 in einer sehr lesenswerten, auch als Buch vorliegenden Potsdamer Dissertation an ihn erinnert. Als Komintern-Beauftragter in Brasilien wurde Ewert 1935 von der Polizei des Vargas-Regimes verhaftet und so grausam gefoltert, dass er den Verstand verlor. 1945 amnestiert, starb er in der DDR als Pflegefall.

Wo der kritische Kommunist Arthur Ewert überhaupt Erwähnung fand, kam seine Frau Elise (1886-1939), nach ihrem Geburtsnamen Saborowski oft Sabo genannt, in der wissenschaftlichen Literatur bestenfalls als Fußnote vor, obgleich sie in literarischen oder autobiografischen Werken, so von Jorge Amado, Alex Wedding, Ruth Werner und Robert Cohen, gewürdigt wurde. Dies suchte erneut Ronald Friedmann in einer archivgestützten Biografie über sie zu korrigieren, und es ist ihm vollauf gelungen. „Sabo“ war, schreibt er, „eine eigenständige schöpferische Persönlichkeit“, keineswegs nur mithelfende Ehefrau eines kommunistischen Politikers. Die „jahrzehntelange enge und vertrauensvolle Partnerschaft“ war ein Glücksfall für beide, und besonders für Elise Ewert „stets eine wesentliche Voraussetzung der eigenen Entwicklung, doch niemals eine Beschränkung.“

Elise Saborowski, geboren in Borszymmen, einem kleinen Ort im südlichen Ostpreußen, verließ nach der Volksschule und dem Tod ihrer Mutter ihren Heimatort und ging nach Berlin. Sie wollte, wie ihr Biograf schreibt, „einen eigenen selbstbestimmten Lebensweg gehen“, und hierzu gehörte auch das Engagement in der Arbeiterjugendbewegung. 1913 trat sie, wohl schon unter dem Einfluss ihres Lebensgefährten (die Heirat erfolgte 1922) der SPD bei. In Berlin arbeitete sie als Telefonistin.

Von 1914 bis 1919 lebten Elise Saborowski und Arthur Ewert in Kanada und in den USA. Auch wenn die Quellen über diese Zeit sehr spärlich sind, gelang es Friedmann, Spuren zu sichern, die das Engagement beider in der sozialistischen Bewegung Nordamerikas bezeugen.

Nach ihrer Rückkehr traten sie der KPD bei. „Sabo“ arbeitete in verschiedenen Gremien der Komintern, namentlich der Frauen-Internationale, wobei Clara Zetkin eine ihrer Mentorinnen wurde. Auch als Übersetzerin trat sie hervor: So übersetzte sie Eugene Lyons‘ Buch über den Justizmord an Sacco und Vanzetti (neben Max Shachtmans Buch zum gleichen Thema die wohl beste zeitgenössische Untersuchung; unabhängig davon, dass Lyons später ein wilder Antikommunist wurde). Die folgenden Jahre führten beide im Auftrag der Komintern nach Moskau, wiederum in die USA sowie nach China und in verschiedene Länder Lateinamerikas. Für ein Familienleben, gar für Kinder, blieb keine Zeit, was Elise ein Leben lang sehr bedauerte.

Diese Rastlosigkeit war aber keineswegs nur selbstgewählt, sondern Ergebnis der Bemühungen des KPD-Apparates, die kritischen Köpfe, die Thälmanns Aufstieg mit Skepsis sahen, aus der deutschen Politik herauszuhalten. Arthur Ewert, Mitglied des engsten Führungszirkels der Partei, lehnte die von der Komintern und Thälmanns Anhängern unter der Losung des „Sozialfaschismus“ 1928 betriebene ultralinke Politik ab, die in den Sozialdemokraten die gefährlichsten, weil benachbarten Gegner sah. Anders als die als „Parteirechte“ abgewerteten Heinrich Brandler und August Thalheimer übten die „Versöhnler“ Ewert, Ernst Meyer und Gerhart Eisler jedoch keine offene Kritik an der Stalin-Führung und konnten, ungleich diesen, in der KPD bleiben. Doch verloren sie ihren Einfluss in den Führungsgremien.

Ewert und seine Frau gingen schließlich 1934 von Moskau aus unter dem Tarnnamen Berger nach Brasilien. Sie assistierten dort dem KP-Führer Luis Carlos Prestes und seiner aus München stammenden Lebenspartnerin Olga Benario beim 1935 geplanten Aufstand gegen das Vargas-Regime. Dieser Aufstand scheiterte jedoch mangels Unterstützung der Bevölkerung schon in den ersten Ansätzen.

Die Ewerts mussten untertauchen, wurden jedoch noch Ende 1935 von der Polizei gefasst und grausam gefoltert. Ronald Friedmann kann der Leserschaft die entsetzlichen Einzelheiten der Torturen nicht ersparen, in deren Folge Arthur Ewert psychisch zerstört wurde und seine Frau nur knapp überlebte. Daraufhin wurden Elise Ewert und die gleichfalls verhaftete schwangere Olga Benario vom Polizeichef von Rio de Janeiro, Filinto Müller, nach Deutschland deportiert und an die Gestapo ausgeliefert. Olga Benario brachte im November 1936 im Frauengefängnis in Berlin ihre Tochter Anita Leocadia zur Welt. Da Anita durch ihren Vater Luis Carlos Prestes, anders als ihre Mutter brasilianische Staatsbürgerin war, wurde sie nach Brasilien zu ihrer Großmutter verbracht. Für Olga Benario und Elise Ewert gab es keine Rückkehr in die Freiheit.

Im Februar 1938 wurde Olga Benario ins KZ Lichtenburg verbracht, wo sie durch einen Zufall noch einmal Elise Ewert wiedersah. Olga wurde von dort in das KZ Ravensbrück verlegt und im April 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg umgebracht. Ihr Vater war schon 1933 gestorben, ihre Mutter und ihr Bruder wurden gleichfalls ermordet.

Elise Ewert durchlitt die Frauenkonzentrationslager Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück. Selbst dort beteiligte sie sich, wie Berichte ihrer überlebenden Genossinnen bezeugen, an der politischen Arbeit der kommunistischen Gefangenen. Eine Verbindung zur Außenwelt waren ihre natürlich streng kontrollierten Briefe an ihre Schwägerin Minna Ewert, die, in den USA lebend, unermüdlich Verbindungen ins Ausland knüpfte. Friedmann zeigt, welches Maß an internationaler Solidarität, auch über das kommunistische Lager hinaus, dennoch Elise Ewert nicht vor dem Tod bewahren konnte. Zur Quälerei gehörte, dass der Lagerkommandant Max Koegel sie zur „Blockältesten“, zur Aufsichtsperson über die sogenannten Asozialen machte, über Frauen, die wegen unpolitischer Delikte, worunter auch die Prostitution fiel, verurteilt worden waren. Durch die Denunziation einer Mitgefangenen aus diesem Milieu wurde Elise Ewerts politische Arbeit entdeckt, und sie wurde dem Strafblock zugeteilt. Dort musste sie die körperlich schwerste Arbeit verrichten. Am 26. Juli 1939 starb sie an diesen Anstrengungen, vor allem aber an den Folgen der jahrelangen physischen und psychischen Folter, denen sie in Brasilien und Deutschland ausgesetzt war. Sie wurde nur 52 Jahre alt.

Zwei ihrer Aufseherinnen wurden für die Menschenquälerei in der Sowjetischen Besatzungszone zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Der Ravensbrücker KZ-Kommandant Koegel tauchte zunächst unter, wurde aber 1946 von amerikanischen Soldaten verhaftet und beging im Gefängnis Selbstmord. Filinto Müller setzte seine Karriere fort. Vor seinem Tod infolge eines Flugzeugunglücks in Paris 1969 war er Vorsitzender der Regierungspartei der brasilianischen Militärdiktatur, der ARENA (Aliança Renovadora Nacional –Nationale Erneuerungsallianz). Im Jahre 1960 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, dessen Sonderstufe als erster Träger sein Dienstherr Getúlio Vargas 1953 hatte empfangen dürfen.

Dieses ungemein wichtige Buch musste sein Autor im Selbstverlag herausbringen. Dies zeugt ebenso vom Verfall des historischen Bewusstseins unter deutschen Linken wie die Tatsache, dass historische Bildungsarbeit in der Partei Die Linke eine immer geringere Rolle spielt und die SPD ihre Historische Kommission vor fünf Jahren gleich gänzlich aufgelöst hat.

Ronald Friedmann: Sabo. Das kurze Leben der Elise Ewert. Dr. Ronald Friedmann/Epubli, Berlin 2022, 218 Seiten, 19,90 Euro.