26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Edvard Munch – Bahnbrecher der modernen Kunst

von Klaus Hammer

Auf Einladung des Berliner Kunstvereins zeigte Edvard Munch 1892 sein bis dahin entstandenes malerisches Werk im Ausland, doch erschreckt von der ungewohnten Kühnheit seiner Bilder, setzte die konservative Mehrheit die vorzeitige Schließung der Berliner Ausstellung durch. Gerade dieser Skandal bewog dann aber den norwegischen Künstler, nach Berlin zu ziehen und sich hier bis 1908 immer wieder aufzuhalten – ab 1903 zeigte ihn regelmäßig der Kunsthändler Paul Cassirer. Ihm wurde nun in Deutschland die größte Beachtung entgegengebracht. Die wegweisende internationale Ausstellung des Kölner Sonderbundes 1912 enthielt einen Ehrensaal mit 32 Gemälden Munchs. Er sollte als Vorläufer der jungen expressionistischen Maler repräsentiert werden. 1927 erfolgte die bis dahin größte Munch-Retrospektive in der Berliner Nationalgalerie.

Von den Nationalsozialisten wurde Munch, der 1944 auf seinem Anwesen in Ekely bei Oslo verstarb, einerseits als nordisch-germanischer Künstler, andererseits als „entartet“ instrumentalisiert. In der Nazi-Aktion „Entartete Kunst“ 1937 sind 83 seiner Werke aus öffentlichen Sammlungen konfisziert worden.

Nunmehr präsentiert die Berlinische Galerie, die selbst kein einziges Werk dieses Künstlers besitzt, mit großzügigen Leihgaben vor allem aus dem Munch-Museum in Oslo, dem Stadtmuseum und dem Kupferstichkabinett in Berlin wesentliche Aspekte seines Werkes: Ab 1889 die melancholischen Bilder der Einsamkeit und Ausweglosigkeit, die Männerbildnisse um 1909 im Monumentalstil, die naturnahen Werke mit klarem nordischem Licht um 1911. Vor allem der Berliner Zeit Munchs sucht Kuratorin Stefanie Heckmann gerecht zu werden. Fünf Bilder des Linde-Frieses von 1904 sind ebenso zu sehen wie neun des Reinhardt-Fries genannten Zyklus für den Empfangssaal der Kammerspiele von 1906/07, wie auch große Teile des „Lebensfrieses“, der Geschichte eines modernen Bilderlebens – von Munch als „Dichtung über Leben, Liebe und Tod“, auch als „Symphonie“ bezeichnet –, in den er seit 1893 unterschiedliche Lebensaspekte zusammengestellt hat.

Die maßgebliche Attraktion der Ausstellung besteht in einer Addition hochformatiger lebensgroßer Porträts, mit denen Munch im Sommer 1909 anscheinend an den großen spanischen Koloristen Velazquez anknüpfen wollte. Er fasste sein Oeuvre als Schritt von der Nacht zum Licht, von der verschlossenen, gelegentlich dunklen Symbolik in der Dämmerung oder bei Kerzenschein zu frontaler physischer Größe im Sonnenlicht auf. So bahnten gerade die Bildnisse den Weg zu den symbolisch erhellten, mit nordischem Winter- und Sommerlicht gemalten Historienbildern der Universitätsaula von Oslo. Die Figuren – das sind jeweils Freunde wie der norwegische Konsul Sandberg (1901), eine massige Gestalt, die zu schweben scheint, oder der Munch behandelnde Nervenarzt Professor Jacobson (1909), hineingesetzt in ein Feuer aller Farben der Hölle -präsentieren sich allein und silhouettenhaft in einem weithin geleerten Raum. Eine weibliche Chimäre schwebt – nicht fassbar – als Kopfgeburt des Mannes im „Selbstbildnis unter Frauenmaske“ (1893). Munch nutzte auch die ästhetischen Möglichkeiten der Fotografie für sich – und gerade sie diente ihm als kritische Musterung, um damit die eigene Erscheinung besser erfassen zu können.

In Aasgaardstrand, einem kleinen Fischerdorf an einem Fjord außerhalb Oslos, hatte Munch ein Sommeratelier bezogen. Er machte Aasjaardstrand, seine Menschen, Häuser, Wälder, Felsen und Küste, zu einer der symbolhaften Landschaften des modernen Geistes und zum Sinnbild für Entfremdung, Verlorenheit und Sehnsucht. Die Männer und Frauen, die in einem ichbezogenen Trancezustand auf das Meer hinausblicken, sind vielleicht die letzten Nachfahren der melancholischen Rückenfiguren in der romantischen Malerei. Diese Landschaft ist der Hintergrund jenes bedrückenden Seelenzustandes, unter dem Munch zeitlebens gelitten hat, jenes „schrecklichen Angstgefühls, das ich in meiner Kunst auszudrücken versucht habe“.

Die Figur der „Melancholie“ wird einmal durch einen sitzenden, stark silhouettiert wirkenden Mann vorgestellt (1894); er wirkt verschlossen, aber seine Gefühle haben sich in einem Dialog der Farben und Linien in die Landschaft entäußert. Zum anderen zeigt Munch seine geisteskranke Schwester Laura in lichtdurchflutetem Raum (Lithografie, 1899), ganz in ihre eigene, abgeschiedene Welt versunken. Auf seinen zunehmend hintergrundlosen Wald-Bildern, die schon stilistisch den deutschen Expressionismus vorwegnehmen, hat Munch die Baumwipfel kathedralenhaft als Stimmungs- und Seelenlandschaften dargestellt („Der Wald“, 1927).

Wurden Grün, Blau und Violett die bestimmenden Farben seiner Landschaften, ließ er in „Amor und Psyche“ (1907), einem männlichen und weiblichen Akt im Dreiviertelprofil, farbige Streifen über das Bild fließen. Er hat dann bald seinen „präkubistischen“ Malstil wieder beendet, die Farben wurden licht und leicht, eine neue Klarheit kam in seine Malerei, die der Berliner Kunsthistoriker Curt Glaser in seiner Munch-Monografie von 1917 so charakterisierte: „Der Zauber mystischen Geheimnisses ist gebrochen […] Munch ist der Natur nähergerückt.“

So hat sich Munch mit vielen Themen über Jahrzehnte hinweg beschäftigt und sich dabei ganz unterschiedlicher Materialien, Bildträger und Techniken bedient. Das Thema „Mädchen auf der Brücke“ ist von ihm insgesamt sechzehnmal in Gemälden und in Radierungen, Holzschnitten und Lithografien bearbeitet worden. Eros und Tod, in ihren Facetten von Verführung, Eifersucht, Lebensangst und Krankheit sind die Leitmotive Munchs, die bis in seine Landschaftsdarstellungen ausstrahlen. Daneben bilden Porträts, auch zahlreiche Selbstbildnisse, einen weiteren Themenschwerpunkt.

Er hat das Aquatinta-Verfahren in die Technik seiner Kaltnadelradierungen einbezogen, unterschiedliche Techniken wie Lithografie und Holzschnitt im Zusammendruck auf einem Blatt verwendet oder die Platten seiner Holzschnitte zersägt, um durch individuelles Einfärben der Teilstücke neue Effekte und Bildstimmungen zu erzielen. Er hat seine grafischen Blätter zusätzlich aquarelliert oder durch Übermalungen inhaltlich erweitert. Immer ging es ihm um die letztgültige Formulierung eines Themas im Bild.

Die Lithografie „Der Tod im Krankenzimmer“ (1896) zeigt die Familie Munch, die sich um der Schwester Sophies Totenbett versammelt hat, und die wie Schauspieler auf der schrägen Ebene einer Bühne dem Betrachter gegenüber aufgebaut sind. Dynamische Perspektiven, angeschrägte Bildebenen, diagonale Feldlinien oder vorspringende Vordergründe sind für Munchs Arbeiten ebenso charakteristisch wie die räumliche Erstreckung vom Nahen bis in die Ferne.

Zwiespältig war Munchs Beziehung zu Frauen, oft erschienen sie ihm rätselhaft und undurchschaubar, wie das „Mädchen auf der Brücke“, die jungfräuliche Sphinx ohne Gesicht. Für den Kampf der Geschlechter in unversöhnlichem Liebeshass, für Anziehung, Liebe, Geborgenheit bis hin zur Einsamkeit des einzelnen fand er immer wieder neue Symbole.

„Pubertät“ heißt die Lithografie von 1894, auf der ein Mädchen auf dem Bett hockt und seine Scham mit ungeschickt furchtsamen Händen bedeckt, während ihr eigener Schatten sich hinter ihr wie ein phallisches Symbol drohend aufrichtet. Wer nicht von einer ängstlichen Jungfrau zurückgewiesen wurde, der fiel sicherlich einer Femme fatale in die Hände, wie jenem faszinierendem Frauenbild mit rotem Haar und grünen Augen, das unter dem Titel „Die Sünde“ (1902) bekannt wurde.

Munch umgibt seine „Madonna“ (Farblithografie, 1895/1902), eine hingebende Frau im Moment der Empfängnis, mit einem Rahmen aus Spermatozoen und einem Embryo, damit auf die Entstehung neuen Lebens verweisend. Der Holzschnitt „Der Kuss“ entstand in vier verschiedenen Fassungen, bis Munch 1902 in dem sich umarmenden Paar die letztgültige Formel fand. In der verzweifelten Umarmung des Paares wird schon die später umso heftiger aufbrechende Kluft spürbar. Dieselben Spannungen, die Ibsens und Strindbergs Dramen so beklemmend machen, kann man auch bei Munch spüren, nur noch intensiver. Denn die unmittelbarste Quelle seiner Inspiration war die eigene Erfahrung.

Der Ablauf eines ganzen Menschen- und Künstlerlebens wird im Oeuvre Munchs zyklisch vorgeführt. Denn er war der erste moderne Maler, der in Konzentration auf die menschliche Psyche die Vorstellung, dass Persönlichkeit durch Konflikte entsteht, in eine konsequente Bildsprache übersetzte.

Man kann tatsächlich von einem Munch-Herbst 2023 sprechen, denn das Museum Barberini in Potsdam wird sich in seiner Ausstellung „Munch. Lebenslandschaft“ ab 18. November der Faszination des Künstlers für die Natur widmen und sein Werk als Resonanzraum der Klimakrise in der Gegenwart erschließen.

Edvard Munch – Zauber des Nordens. Berlinische Galerie, bis 22.1.2024, Katalog 39,80 Euro (Museumsausgabe).