26. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2023

Zu politischem Denken und Handeln heute

von Stephan Wohanka

Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.

(Der junge Tancredi zum alten Fürsten Salina in Lampedusas „Der Leopard“)

 

Johannes Vogel, stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, befragt zu den endlosen und ermüdenden Streitereien in der Ampel, sagte kürzlich in einer Talkshow: „Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, dass inhaltliche Debatten öffentlicher stattfinden als in der Koalition alter Art. Wir haben eben auch nicht mehr die alten Lager, sondern ein verändertes Parteiensystem. Wir müssen uns ein stückweit daran gewöhnen, dass nicht jede Debatte, jede inhaltliche Unterschiedlichkeit auch in einer Koalition […] dass das nichts Schlechtes sein muss“.

Diese an sich harmlose Behauptung gewinnt dann an Brisanz, wenn man sie als Kritik, ein Abgehen von Angela Merkels konturloser Politik nimmt. Was davon in Erinnerung geblieben ist, ist das Mantra des „Alternativlosen“ – für diese und jene Maßnahme, Vorhaben, Gesetz gäbe es nur diese eine Option. Dahinter stand eine exekutivisch angelegte Politik, die von anderen Instanzen oder Akteuren nicht in Zweifel gezogen werden durfte. Wesensmerkmal von Politik ist jedoch gerade die Auswahl zwischen Alternativen; Merkel negierte dies und sah sich im Besitz der einzig „richtigen“ Vorgehensweise. Der Gedanke liegt nahe, dass Merkel ihr Handeln so als rein sachlich, ökonomisch oder gar „wissenschaftlich“ begründet dargestellt sehen wollte, um es damit der tagespolitischen Debatte zu entziehen. Nur auf diese Weise konnte der Umstand verschleiert werden, dass ihre Politik nicht so sehr durch alltägliches Regierungshandeln, das „Bohren dicker Bretter“, sondern einerseits durch zahllose Subventionen und „Rettungsmaßnahmen“ für viele Bereiche der Wirtschaft, – meist mit dem Geld der Steuerzahler – gekennzeichnet war; andererseits durch Unterlassen oder Aufschieben wichtiger Reformen, kombiniert mit einer desaströsen „Sparpolitik“.

Vor diesem Hintergrund ist Merkel vorgeworfen worden, sie „entpolitisiere“ die Politik. Steht „alternativlos“ also in Wahrheit für „unpolitisch“; und war damit eine bestimmte Botschaft verbunden? Ja natürlich – in der simpelsten Form: „Mutti macht das“: Im Zentrum stand „die besorgte Mutter“, die von Merkel selbst zum Ideal erhobene sparsame „schwäbische Hausfrau“ – eine Infantilisierung von Politik! Die Kritik, die liberale Moderne sei zu politischer Form nicht mehr willens und fähig, „es soll nur noch organisatorisch-technische und ökonomisch-soziologische Aufgaben, aber keine politischen Probleme mehr geben“, war schon ein Grundmotiv des Denkens von Carl Schmitt.

Auch heute ist es noch „en vogue“, Politik „heraushalten“ zu wollen: Finanzindustrie, Konzernlenker, Funktionäre diverser Gremien und „Experten“ sind sich weiterhin in der Forderung einig, die unsachliche Herrschaft der Politik über die Sachlichkeit des wirtschaftlichen Lebens wenn nicht zu beseitigen, so doch einzuschränken. Es gebe nur noch organisatorisch-technische und soziologische Herausforderungen, aber keine politischen Probleme mehr. (Politische) Stabilität sichern vermeintlich Verwaltungen, Gerichte, Interessenverbände, (Zentral)Banken und Bildungsinstitutionen. Die so dominierende Art ökonomisch-technischen Denkens vermochte und vermag eine politische Idee gar nicht mehr wahrzunehmen. Bestes Beispiel dafür war der Bau der Gasleitung Nordstream II: Gebetsmühlenartig wurde verkündet, es handle sich ausschließlich um ein (privat-)wirtschaftliches Projekt, die politische Brisanz, die selbiges von vornherein in sich barg, blieb systematisch ausgeblendet; wurde vielleicht gar nicht verstanden.

Aber Politik drängt mit Macht zurück! Und trifft die politische Klasse so in Teilen unvorbereitet. (Noch) leben wir in einer Demokratie mit funktionierenden Institutionen und Verfahren; eine immer noch einigermaßen florierende Wirtschaft sorgt für Wohlstand. Jedoch beuteln „multiple“ Krisen das Land, die die gesellschaftlichen Debatten bestimmen und sich auch im Alltag bemerkbar machen. Konfliktlinien haben sich so zugespitzt, dass – notwendige – politische Debatten schon mal in „Kulturkämpfe“ ausarten. Die gegenwärtig allenthalben spürbare Aufgeregtheit und Gereiztheit, die sich bereits seit Längerem anbahnten und die im Aufkommen und Anwachsen des Rechtspopulismus einen vorläufigen Höhepunkt erfahren haben, drohen so in die Schmittsche Dichotomie „Freund-Feind“ zu fallen. Sollte diese sich breitmachen, könnte ein über das Verbale hinausgehender „Bürgerkrieg“ ausbrechen, indem sich ein erheblicher Teil der Menschen gegen den politischen Konsens als Lösungsform gesellschaftlicher Konflikte richtete und den gemeinsamen Boden der Wirklichkeit verließe; alles Folgen eines über Jahre, auch „Merkel-Jahre“, aufgestauten, bislang noch unbewältigten epochalen Umbruchs hin zu einer dekarbonisierten Wirtschafts- und Lebenswelt.

Der Kampf um diese, vulgo um den Klima- und Umweltschutz ist genuin politisch; er beginnt an der Wahlurne. Relativ viele Wähler haben bei der letzten Bundestagswahl die Grünen gewählt; teils, um ihr schlechtes Klima-Gewissen an diese Partei zu delegieren, teils, weil sie die Grünen als Garanten dafür ansahen, dass es im Klimaschutz voranginge. Veritable Teile der Bevölkerung jedoch hatten und haben derart wenig Interesse an Klimaschutz, dass sie folglich eine Partei bevorzugen, die nicht nur das Thema rundheraus negiert, sondern diese darüber hinaus „gesichert rechtsextrem“ genannt werden kann. (Wobei das für manche Anreiz denn Abschreckung ist). Immer noch (oder wieder) ist die Leugnung des Klimawandels und die Ablehnung des Klimaschutzes hoffähig, was sich auch im gesellschaftlichen Diskurs widerspiegelt, was, wenigstens teilweise, mit dem Verweis auf Pluralität der Meinungen begründet wird.

Die Ampel und namentlich die Grünen enttäuschten die Erwartungen auf durchgreifende Klimaschutzmaßnahmen; mehr noch, sie brachten die diesen Vorhaben skeptischen bis ablehnend gegenüberstehenden Menschen gründlich gegen sich auf. Der Zulauf ins Rechtsextreme nahm zu – und Friedrich Merz erklärte die Grünen zum „Hauptgegner“. Ein eklatanter politischer Fehler, der auch daher rührt, dass die Union nach Merkels Abgang weder Fisch noch Fleisch ist. Und der Konservatismus heimatlos.

„Quasi-hegelianisch lässt sich wohl sagen: Konservatismus ist eine dialektische Haltung, in der man angesichts einer Antithese gleich schon zur nächsten Synthese vorausdenkt“, so der Politologe Werner J. Patzelt. Konservatismus heute – das wäre folglich einer, der die Bewahrung namentlich der Schöpfung in den Mittelpunkt seines politischen Credos stellte, der Werte wie Achtung jeglichen individuellen Lebens, Arbeits-, Wirtschafts- und Pflichtethos, Traditionsbewusstsein, Naturverbundenheit, – nicht polemisch missbrauchte, sondern zu realpolitischen Forderungen zuspitzte. Er stellte sich gegen die Vergiftung der Medien Boden, Wasser, Luft und setzte sich gegen die Spekulation mit der nicht vermehrbare Ressource Grund und Boden ein. Ein Eigentümer wäre aus dieser Sicht nur ein Treuhänder, der gegenüber seinen Nachfolgern zu einem verantwortlichen Umgang mit diesem Eigentum verpflichtet ist. Konservative würden nicht nur für heute und die nächste Generation vorsorgen, sondern weit in die Zukunft – in der Umweltpolitik wären sie von niemandem zu übertrumpfen. Sie wären der ideale Partner der Grünen.

Dieser Konservatismus wäre in der Lage, den die ökologische Not wendenden Umbau der Gesellschaft zu befördern. Einmal dadurch, dass das behauptete „bessere Neue“ sich vor ihm, seinem Bewahrenwollen zu „rechtfertigen“ hätte, zum anderen durch die Einsicht, dass es immer wieder die Umgestaltung des Hergebrachten braucht, wenn in einer sich wandelnden Wirklichkeit das Erhaltenswerte – hier die Schöpfung – weiterhin verlässlich bestehen soll. Konservative neigen dabei nicht zum Überschwang; sind vorsichtige Reformer. Das macht sie Skeptikern und Andersdenkenden – anders als „Linke“ – zu glaubwürdigeren Akteuren. Konservativ sein liegt gerade nicht in der Wut auf Veränderungen, auf das „System“ und die „Alt-Parteien“, sondern im Mut zu sagen, dass vieles nicht so bleiben kann, wie wir es kennen. So könnte sich die CDU vom Mehltau der Merkel-Jahre befreien und als konservative Kraft profilieren.